8 September 2007

Wir sind alle Mutanten.

"Experimental evidence backs up the observations that mutations are generally harmful and do not produce anything new". Von: Was Darwin right

"This beetle undoubtably once had wings that were lost by a degenerative mutation. In this case, the mutation was an advantage because Madeira is very windy. Beetles with wings get blown off the island and drown. Beetles with no wings stay on the ground and live. However, we must point out that even though this degenerative mutation was good for the beetles, it was still an instance of decay". Von: Science in a christian perspective

"In reality, mutations are extremely dangerous and are wreaking havoc on the human race and other living creatures". Von: Christian Answers

Varianten der Behauptung, es gäbe keine "guten" Mutationen oder alle Mutationen wären "degenerierend", kann man immer wieder bei Evolutionskritikern lesen. Vor allem im Bezug auf den Menschen wird diese Sichtweise auf den ersten Blick durch all die Veröffentlichungen bestätigt, in denen verschiedenste Mutationen als Ursache von Krankheiten identifiziert wurden. Es ist natürlich sehr viel einfacher, eine Krankheit auf eine Mutation zurückzuführen, als die Tatsache nachzuweisen, dass jemand vor einer bestimmten Krankheit durch eine Mutation geschützt ist. Ein bekanntes Beispiel ist die 32 bp-Deletion in CCR5 (CCR5delta32; ein Chemokin-Rezeptor), die eine starke Resistenz gegen eine Infektion mit dem HI-Virus vermittelt.

Was meiner Meinung aber auch zu dieser falschen Auffassung beiträgt, ist, dass die schiere Menge an Mutationen, die auch im menschlichen Genom vorkommen, völlig unterschätzt wird. Das Vorhandensein von "Allelen*" geht auf Mutationen zurück. Auch wenn von einem Polymorphismus** die Rede ist, spricht man über auf Mutationen zurückgehende Varianten eines Gens. Betrachtet man die Unterschiede bezogen auf einzelne Nukleotide, sind das Single Nucleotide Polymorphisms (SNPs).

Einen Eindruck von der schieren Menge an SNPs und anderen Varianten auch in Menschen kann man bekommen, wenn man sich die Veröffentlichung zur Sequenzierung von Craig Venters Genom in PLoS anschaut [Levy et al., The Diploid Genome Sequence of an Individual Human.PLoS Biology Vol. 5, No. 10, e254]:
Comparison of this genome [Craig Venters] and the National Center for Biotechnology Information human reference assembly revealed more than 4.1 million DNA variants, encompassing 12.3 Mb. These variants (of which 1,288,319 were novel) included 3,213,401 single nucleotide polymorphisms (SNPs), 53,823 block substitutions (2–206 bp), 292,102 heterozygous insertion/deletion events (indels)(1–571 bp), 559,473 homozygous indels (1–82,711 bp), 90 inversions, as well as numerous segmental duplications and copy number variation regions. Non-SNP DNA variation accounts for 22% of all events identified in the donor, however they involve 74% of all variant bases. This suggests an important role for non-SNP genetic alterations in defining the diploid genome structure. Moreover, 44% of genes were heterozygous for one or more variants. Using a novel haplotype assembly strategy, we were able to span 1.5 Gb of genome sequence in segments >200 kb, providing further precision to the diploid nature of the genome.
Über 3 Mio. SNPs, 44 % der Gene heterozygot (= zwei verschiedene Allele), über eine halbe Million homozygote (beide Allele betreffende) Insertionen oder Deletionen, die zwischen 1 und 82.711 Basenpaare umfassten. In einem "normalen" Menschen. Wobei dies nur wieder zeigt, den genetisch "normalen" Menschen gibt es nicht.

Auch Genduplikationen und -Deletionen, oder allgemeiner, Copy Number Variants (CNVs), die ein Gen einschlossen, wurden in Craig Venters Genom gefunden (insgesamt 62; 30 Duplikationen, 32 Verluste). CNVs sind im Zusammenhang mit einer ganzen Reihe von Erkrankungen festgestellt worden, wobei nicht immer klar ist, ob beispielsweise eine vorliegende Duplikation tatsächlich *ursächlich* für die Krankheit ist. Um beurteilen zu können, ob es sich um eine Koinzidenz handelt oder tatsächlich ein kausaler Zusammenhang besteht, benötigte man mehr Daten darüber, wie häufig diese Duplikation insgesamt ist (auch in "gesunden" Menschen). Ein Science NewsFocus [Genomics: 'DNA Duplications and Deletions Help Determine Health'; leider kein Volltext] beschäftigt sich diese Woche mit dem Zusammenhang von Gen-Duplikationen und -Deletionen und Krankheiten, der auch einige Informationen über die Häufigkeit von CNVs in gesunden Menschen enthält und darüber hinaus auch Hinweise auf "Evolution in action".
Yet finding that a CNV alters gene expression or involves a disease-related gene is still a far cry from explaining how it actually causes symptoms. As it turns out, CNVs can cause problems by several different mechanisms. In the simplest scenario, extra or missing copies of a gene alter its overall expression, thus changing production levels of the protein encoded by the gene.

[...]

Gene duplications--which can range from one to more than a dozen copies of a gene--in contrast, can increase protein production. As Lupski discovered, such excess leads to a form of CMT. Studies of families with early-onset Alzheimer's disease have found that extra copies of genes can overproduce the amyloid beta precursor protein, causing problems for the brain. Similarly, geneticists studying a rare form of early-onset Parkinson's have found that it can result from a CNV that causes the overproduction within the brain of the protein alpha-synuclein.

But unraveling the ties between CNVs and disease isn't always straightforward. Having an extra or missing gene often has no appreciable impact. Sometimes an extra copy of a gene includes a SNP, making it different from the normal copies, and it's that single-base mutation that causes problems. The SNP, in turn, might modify the effect of the CNV, lessening or exacerbating the resulting symptoms. Other times, the CNV alters the regulatory mechanism that controls a gene located far away. Or the creation of a CNV can add or delete DNA in the middle of an existing gene, effectively crippling it.
In dem Ausschnitt werden gleich mehrere der Mechanismen angesprochen, wie (auch) neue Genfunktionen entstehen können oder die Voraussetzungen dafür geschaffen werden. In einer der Genduplikate kann beispielsweise eine Mutation (SNP) vorliegen, die die Funktion dieser veränderten Variante oder des "normalen" Gens beeinflusst. Durch die Duplikation und die damit eventuell verbundene erhöhte "Dosis" des Genprodukts kann auch die Regulation anderer Gene oder Stoffwechsel-Wege beeinflusst werden.
Dass diese Veränderungen keineswegs immer mit Krankheiten verbunden sind, zeigt nicht nur Craig Venter, sondern auch die Database of Genomic Variants, in der mittlerweile 6482 CNVs in "normalen" Menschen katalogisiert wurden.

Sequenzierungen auch großer Genombereiche wird immer schneller und billiger. Je mehr von diesen durchgeführt und veröffentlicht werden (alle diese Sequenzen sind frei verfügbar), um so mehr Informationen erhalten wir auch über die Variationsbreite im Genmaterial "ganz normaler Menschen". Auch bezogen auf die Evolution des Menschen wird uns das sicherlich noch einiges Interessante offenbaren.

MfG,
JLT




* Das Gen, das eine bestimmte Sequenz hat und eine bestimmte Funktion ausführt, gibt es in vielen Fällen gar nicht. Es gibt viele verschiedene Varianten, Allele, die die selbe Funktion ausführen können. In einem diploiden Genom (das komplette Genom ist doppelt vorhanden) wie beim Menschen, ist es durchaus nicht unüblich, dass zwei verschiedene Varianten eines Gens (zwei Allele) vorhanden sind. Dies bezeichnet man als "heterozygot für Gen X" (zwei identische Allele wäre "homozygot für Gen X").

** Bezogen auf ein Gen heißt Polymorphismus, dass es viele verschiedene Allele gibt.

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