12 September 2007

Was (zum Geier) ist.... Phylogenie (Teil 1).

[E]volution is a theory. It is also a fact. And facts and theories are different things, not rungs in a hierarchy of increasing certainty. Facts are the world's data. Theories are structures of ideas that explain and interpret facts. Facts do not go away when scientists debate rival theories to explain them. Einstein's theory of gravitation replaced Newton's, but apples did not suspend themselves in mid-air, pending the outcome. And humans evolved from apelike ancestors whether they did so by Darwin's proposed mechanism or by some other, yet to be discovered.
[Quelle: SJ Gould, 'Evolution as Fact and Theory'. Discover 2 (May 1981): 34-37]

Wenn Gould in diesem Zitat von Evolution als Tatsache spricht, meint er damit common descent. Die Abstammung aller Arten von einem gemeinsamen Vorfahren ist so gesichert, dass niemand in Kenntnis der Daten dies bezweifeln kann. Die grafische Darstellung dieser Tatsache als phylogenetischer Abstammungsbaum hat wahrscheinlich jeder schon mal in der einen oder anderen Form gesehen [Abb. 1 zeigt ein Beispiel; Klicken zum Vergrößern]. Aber wie werden diese Phylogenien bestimmt?

Dass sich die Arten in verschiedene Gruppen unterteilen lassen, ist nicht erst Linnaeus aufgefallen, auch wenn er der Erste war, der sich eine Systematik (Linnés Taxonomie) dazu hat einfallen lassen. Während Linnaeus diese Unterteilung (natürlich) nur auf der Grundlage anatomischer Gemeinsamkeiten und Unterschiede erstellen konnte, versucht die Phylogenetik eine Unterteilung nach Gruppen von Arten, die einen gemeinsamen genetischen Vorfahren haben und verwendet dazu sowohl anatomische als auch molekulargenetische Merkmale.

Die Methode, Organismen aufgrund von gemeinsamen abgeleiteten Eigenschaften ("Synapomorphien"; "abgeleitet" heißt: nur bei dieser Gruppe vorhanden, "neu") zu klassifizieren, wurde von Hennig in der Mitte des letzten Jahrhunderts eingeführt. Sie ist unabhängig von common descent, d. h. auch unbelebte Gegenstände können nach dieser Methode unterteilt werden, eine gemeinsame Abstammung muss nicht vorausgesetzt werden. Im Grunde hat Hennig nur formalisiert, was Taxonomen seit Linnaeus schon intuitiv gemacht haben, auch bevor Darwin seine Theorie veröffentlicht hat. Der wichtige Punkt ist, dass die Gruppen nicht gebildet werden, indem *alle* Gemeinsamkeiten betrachtet werden, sondern wie oben schon gesagt, nur die abgeleiteten, unterscheidenden Merkmale einbezogen werden.

Betrachtet man als Beispiel die Säugetiere, so sind abgeleitete Merkmale beispielsweise Endothermie (Körperwärme kann aktiv reguliert werden), Haare und das Vorhandensein von Zitzen. Die höheren Säugetiere haben als abgeleitetes Merkmale eine Plazenta (was sie von den Beuteltieren unterschiedet). Unter den höheren Säugetieren sind die mit dauerhaft nachwachsenden Zähnen im Ober- und Unterkiefer zu den Nagetieren zusammengefasst etc.. Wichtig ist, dass ein bestimmtes Merkmal je nach Gruppe, die betrachtet wird, abgeleitet oder "primitiv" sein kann: betrachtet man die Säugetiere als Gruppe, sind Haare ein abgeleitetes Merkmal. Betrachtet man die Nagetiere, sind Haare ein primitives Merkmal (das sie nicht von anderen Säugetieren unterscheidet). "Primitiv" und "abgeleitet" sind also relative und nicht etwa qualitative Bezeichnungen.
In der Realität ist es natürlich nicht so einfach zu entscheiden, welche Merkmale tatsächlich die charakterisierenden abgeleiteten Merkmale sind. Um Konflikte zu lösen, sind eine Reihe von statistischen Algorithmen entwickelt worden, die entscheiden helfen, welches tatsächlich die bestimmenden Eigenschaften sind.

Das "Sparsamkeitsprinzip" (maximum parsimony):

Der Abstammungsbaum ist der korrekte, der die wenigsten Konflikte von Eigenschaften beinhaltet. Als Beispiel: Wenn man sich ein Sammlung von zehn Eigenschaften von Fledermäusen ansieht, dann haben sie eins der abgeleiteten Merkmale mit Vögeln gemeinsam (Flügel), aber der Rest platziert sie in einer Gruppe mit Affen und anderen Säugetieren, dann ist die letztere Gruppierung diejenige mit weniger Konflikten.
Diese Methode funktioniert nicht so gut (es kann kein eindeutiger Baum erstellt werden), wenn die Evolutionsrate hoch ist, wenn Gruppen mit einer sehr langen getrennten Entwicklung betrachtet werden oder wenn eine "Eigenschaft" nur wenige Formen annehmen kann. Letzteres wird besonders deutlich, wenn man eine Gensequenz betrachtet. Jedes Basenpaar kann nur eine von vier "Formen" haben, entweder A, T, G oder C. Hier ist es teilweise nicht möglich, *den* Baum mit den geringsten Konflikten zu bestimmen bzw. kann es in Sonderfällen sogar so sein, dass der Baum mit den geringsten Konflikten nicht der tatsächliche ist.


Das "Wahrscheinlichkeitsprinzip" (maximum likelihood):

Diese Methode ist robuster gegenüber unterschiedlichen Evolutionsraten oder Eigenschaftskonflikten. Anders als bei maximum parsimony wird hierfür common descent vorausgesetzt. Ausgehend von Datensätzen mit verschiedenen "Eigenschaften" (z. B. Gensequenzen) kann mit dieser statistischen Methode der Abstammungsweg berechnet werden, der am wahrscheinlichsten zu der beobachteten Verteilung von Eigenschaften geführt hat [siehe Abb. 2; Klicken zum Vergößern].


"Abstandsbestimmung" (distance methods):

Bei dieser Methode werden verschiedene Taxa paarweise verglichen und ihr "Abstand" bestimmt. Dies wäre im einfachsten Fall eine Zählung der Unterschiede. Bei drei Arten, von denen sich 1 und 2 durch drei Eigenschaften unterscheiden, 2 und 3 durch fünf und 1 und 3 durch vier, wären 1 und 2 am nächsten verwandt. Bei dieser Methode wird nicht zwischen abgeleiteten und primitiven Eigenschaften unterschieden und sie wird in der Regel nur für Gensequenzen verwandt. Um aus den Ergebnissen einen Abstammungweg zu erhalten, wird beispielsweise eine weitere Methode verwandt, die als "minimum evolution" bezeichnet wird, d. h. der Baum wird ausgewählt, bei dem die zusammengenommenen "Ast-Längen" (die Zeit, die sich basierend auf Evolutionsraten die einzelnen Taxa getrennt entwickelt haben) aller betrachteten Arten zusammen am Kürzesten ist (es gibt noch eine Reihe anderer Möglichkeiten, aus diesen Daten Abstammungsbäume zu berechnen). Diese Methode ist nicht so rechenintensiv wie maximum likelihood, da jeweils nur zwei Arten betrachtet werden.
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Bei allen Methoden zur Bestimmung einer Phylogenie ist das Ergebnis die beste Annäherung an den historischen Abstammungsweg, der um so wahrscheinlicher der tatsächlichen Abstammungsgeschichte entspricht, je mehr Eigenschaften, und bei manchen Methoden auch, je mehr verschiedenen Taxa* betrachtet werden.

Bevor ich in einem neuen Post zu der Statistik komme, die ausdrückt, wie wahrscheinlich ein berechneter Abstammungsweg dem historischen entspricht, möchte ich eins noch betonen: Nur eine gemeinsame Abstammung, bei der die Beibehaltung gemeinsamer Merkmale durch Vererbung die Regel ist und nur als Ausnahme neue Merkmale entstehen oder alte verloren gehen, erklärt eine verschachtelte Hierarchie, wie wir sie sehen. Das bedeutsame Wort hier ist "erklärt". Natürlich könnte auch eine übernatürliche Macht jede Veränderung verursacht haben, aber um diese verschachtelte Hierarchie zu erhalten, müsste diese sich bemüht haben, den Eindruck einer gemeinsamen Abstammung zu erwecken. Wären die Veränderungen wahllos (nicht im Sinne von ungewollt, sondern von "diese Art sähe lustig mit diesem primitiven Kiefergelenk aus, denen gebe ich jetzt mal Haare und bei dem hier kombiniere ich mal beides (was nie vorkommt)" - es gibt Kombinationen, die möglich wären, aber nie auftreten), könnte nicht ein bestimmter Abstammungsweg berechnet werden, sondern es gäbe sehr, sehr viele verschiedene Abstammungsbäume mit der gleichen statistischen Signifikanz. Selbst wenn man sagt, es wurden verschiedene "Arten" im biblischen Sinn geschaffen und die Evolution fand ausgehend von diesen statt, ist das nicht stichhaltig. Auch wenn man Vögel, Reptilien und Säugetiere betrachtet (was schon eine ziemlich großzügige Auslegung der biblischen "Arten" wäre), kann man wahrscheinliche Abstammungsbäume von weniger wahrscheinlichen unterscheiden. Wie gesagt, das heißt nicht, dass sie nicht geschaffen sein *könnten*, aber es erfordert, dass der/die/das "Schöpfer" sich daran orientiert hat, wie die Verteilung von Merkmalen nur durch Vererbung und Variation aussehen müsste.

MfG,
JLT


[Das hier Beschriebene basiert in großen Teilen auf dem englisch-sprachigen '29+ Evidences for Macroevolution' vom TalkOrigins-Archiv, insbesondere dem 'Phylogenetics Primer', den ich jedem, der einigermaßen Englisch versteht, zu lesen empfehle.]

[Bild-Quelle: Abb. 1: Phylogenetics Primer; Abb. 2: Eigenproduktion]

* Die Bezeichung "Taxon" (pl. Taxa) kann für jede Gruppe von Organismen angewandt werden, die die gleichen Eigenschaften besitzt. Dies kann eine einzelne Art sein, aber auch eine Klasse, Ordnung oder Gattung von Organismen; es ist eine "wertfreie" Bezeichnung. Eine Bezeichnung, die manchmal synonym verwendet wird (es aber streng genommen nicht ist), ist Klade. Als Klade bezeichnet man alle Organismen mit einem gemeinsamen Vorfahren, d. h. in meiner Abb. 2a entsprechen 1 und 2 jeweils einem Taxon und 1 und 2 zusammen gehören zu einer Klade (haben einen gemeinsamen Vorfahren; auf der nächst "höheren" Ebene bilden natürlich auch 1,2 *und* 3 eine Klade). 1 und 2 könnten jeweils beispielsweise Gattungen sein, dann wäre jede für sich wiederum eine Klade, da sie selbst "nur" eine Zusammenfassung von Organismen mit gemeinsamer Abstammung darstellen, die weiter unterteilt werden könn(t)en (uh oh, ich hoffe, damit trage ich nicht zur Verwirrung bei; als Beispiel: alle Säugetiere können als ein Taxon behandelt werden, wenn man sie z. B. mit Reptilien vergleicht und stellen eine Klade dar, wenn man die Säugetiere untereinander anschaut. Es besteht also ein Unterschied in der "Betonung", ob man die Unterschiede oder die Gemeinsamkeiten herausstellen möchte.).

2 Kommentare:

Anonymous said...

Klasse Beitrag! Den sollte man als Einführung in die Thematik ja gleich auf die Homepage der AG Evolutionsbiologie stellen.

Ein ähnlicher (obgleich älterer) Artikel findet sich auf meiner Homepage (hoffe, der ist weitgehend fehlerfrei):

http://www.martin-neukamm.de/junker2.html

JLT said...

Hi Martin,

Danke!

"Den sollte man als Einführung in die Thematik ja gleich auf die Homepage der AG Evolutionsbiologie stellen."

Vielleicht zusammen mit dem zweiten Teil, den ich hoffentlich spätestens dieses Wochenende fertig habe.

Schöne Grüße,
JLT