Ich muss mich mal ganz kurz ein bisschen aufregen.
Auf
Evolution & Schöpfung gibt es einen neuen Beitrag von Markus Rammerstorfer. Er beginnt:
Der Gedanke an Evolution ist in der biologischen Forschung ungefähr vergleichbar mit einem Mercedes-Stern: Hübsch anzusehen, wenn er gefällt, aber verzichtbar für die Funktion des Autos. Die Beispiele für Anwendungen der Evolutionsbiologie sind kurz und wenig beeindruckend.
Im folgenden zitiert er
einen Nature-Artikel von Jerry A. Coyne [Selling Darwin. Nature 442, 983-984; nicht frei verfügbar]. Dieser Artikel ist die Besprechung eines Buches, in dem der Autor dieses Buches (The Evolving World: Evolution in Everyday Life by David P. Mindell. Harvard University Press: 2006) praktische Anwendungen der Evolutionstheorie anführt. Und Coyne findet das Buch bzw. die Haltung dahinter offensichtlich richtig schlecht.
The idea that the main virtue of science lies in its practical applications, especially in fighting disease or creating wealth, is a by-product of the American notion that everything comes down to the dollar. After all, in a country where Martin Luther King dreamed that people should be judged by the content of their character, they are still judged by the cost of their car. It is a peculiarly American objection to evolution that it can't cure cancer or make you rich. And some US biologists, steeped in a culture both mercenary and resistant to evolution, believe that to sell darwinism to people we must show them how darwinism helps people to sell.
This is the motivation for David Mindell's engaging book The Evolving World. As he notes: "When a concept and its resulting applications become useful, people tend to embrace the applications and, eventually, the underlying concepts. It is difficult to argue with success." Indeed. Other fascinating aspects of science may lack practical application (work on black holes, for instance), but these apparently don't need justification because they don't strike at the core of human values as evolution seems to do.
Im folgenden kritisiert Coyne einige von Mindells Beispielen zur praktischen Anwendung der Evolutionsbiologie, z. B.
Mindell likewise gives a readable account of evolutionary theory in medicine. Phylogenetic analysis has helped us trace the animal origins of human pathogens such as anthrax, tuberculosis, AIDS and influenza, as well as more specific routes of infection; for example, the testimony of a systematist helped convict a Louisiana doctor of injecting his mistress with HIV-infected blood. And darwinian medicine gives insight into why virulence and transmission are evolutionarily connected: malaria, reliant on the mosquito vector, leaves its victims prostrate and susceptible to bites, whereas the common cold, spread through the air, leaves its victims free to move around. But an evolutionary viewpoint has not led to cures, so its contribution to medicine has been more heuristic than practical.
Coyne zieht das Fazit:
In the end, the true value of evolutionary biology is not practical but explanatory. It answers, in the most exquisitely simple and parsimonious way, the age-old question: "How did we get here?" It gives us our family history writ large, connecting us with every other species, living or extinct, on Earth. It shows how everything from frogs to fleas got here via a few easily grasped biological processes. And that, after all, is quite an accomplishment.
Zusammengefasst vertritt Coyne also die Meinung, dass Evolutionsbiologie* eher Grundlagenforschung ist als Forschung mit dem Ziel einer praktischen Anwendung und sich ihre Relevanz durch ihre Erklärungsmacht ergibt.
Die krampfhafte Suche nach Beispielen für ihre praktische Anwendung, um den Amerikanern die Evolutionstheorie durch ihren finanziellen Nutzen für sie schmackhaft zu machen, hält er für verfehlt, vor allem auch, da die wenigen Beispiele für eine kommerzielle Nutzung auch noch aus dem Bereich der Mikroevolution stammen, die soundso schon von einer Mehrheit akzeptiert wird. Um die Akzeptanz für die Evolutionstheorie in ihrer Gesamtheit zu erhöhen, ist das Aufzeigen noch so vieler Beispiele ihres praktischen Nutzens seiner Meinung nach kein sinnvoller Weg, vor allem, da die meisten Leute Evolution soundso nicht wegen ihrer mangelnden Kommerzialisierbarkeit ablehnen würden, sondern weil in ihren Augen Evolution eine Gefährdung moralischer Werte bedeutet.
One reason why Mindell might fail to sell Darwin to the critics is that his examples all involve microevolution, which most modern creationists (including advocates of intelligent design) accept. It is macroevolution — the evolutionary transitions between very different kinds of organism — that creationists claim does not occur.
But in any case, few people actually oppose evolution because of its lack of practical use. As with my Alaskan interlocutor, they oppose it because they see it as undercutting moral values.
All das erkennt Markus Rammerstorfer an, aber er gibt dem Ganzen einen anderen Dreh. Er schreibt als Kommentar zu dem obigen Zitat (unter Auslassung des letzten Satzes):
Das Problem mit der Evolutionsbiologie als angewandte Wissenschaft ist also, dass Beispiele, die ihren Erfolg dokumentieren (sollen), nicht die Akzeptanz einer allgemeinen Evolution erfordern. Und dort wo sie die Akzeptanz einer allgemeinen Evolution erfordern würden - etwa bei der Erklärung von Wirbelsäulenproblemen - geht auch schon die Anwendung verloren, bzw. ist der Ansatz nicht überzeugend und zu spekulativ.
Richtig ist, dass die Evolutionsbiologie beispielsweise Rückenprobleme erklären kann, aber sich aus dieser Erklärung keine Heilungsmethoden ergeben. Das liegt aber nicht daran, dass der Ansatz nicht überzeugend ist oder zu spekulativ wäre. Um es an diesem Beispiel zu verdeutlichen: Nehmen wir mal an, es wäre wirklich 100 %ig bewiesen, dass viele Rückenprobleme aus der Tatsache resultieren, dass unsere Vorfahren sich vierbeinig anstelle von zweibeinig fortbewegt hätten. Wie sollte eine "makroevolutionäre" Intervention aussehen? Eine Zeitreise machen und alle unserer Vorfahren erschießen, die sich auf zwei Beine aufrichten?
Der Grund, warum es keine praktische Anwendung aus dem Bereich der Makroevolution gibt, ist, dass es sie nicht geben
kann. Der Zeitrahmen ist ein völlig anderer. Dass die praktische Anwendbarkeit einer Theorie keinerlei Relevanz für ihre Richtigkeit darstellt, scheint auch MR klar zu sein, denn im nächsten Absatz schreibt er:
Ursprungsforschung sollte nicht an "Nützlichkeit" bzw. den Anwendungen gemessen werden, die sie hervorbringt und schon gar nicht an deren kommerziellen Erfolg.
Aber dies leiter er wiederum mit einer irreführenden Bemerkung ein, einem klassischen Strohmann:
Um Mißverständnisse zu vermeiden: Nur weil evolutionstheoretische Erwägungen und Theorien in der biologischen Forschung eine geringe Rolle spielen und wenig Anwendungen in der Praxis erzeugen, ist das kein Argument gegen diese.
Aus der Evolutionsbiologie ergeben sich wenige praktische Anwendungen, ja, aber dass heißt
NICHT, dass sie in der biologischen Forschung keine Rolle spielen, ganz und gar nicht.
An meinem Institut arbeiten wir mit humanen Zellen, aber auch mit Zellen von beispielsweise Ratte, Maus oder Kaninchen. Murine Zellen können in vieler Hinsicht als Modell für menschliche Zellen genommen werden, die grundsätzliche Funktionsweise ist gleich. Aber die Übertragbarkeit der Daten, die durch Untersuchungen mit murinen Zellen gewonnen wurden, auf die Verhältnisse beim Menschen ist nicht vollständig. Es gibt immer auch kleine Unterschiede, dessen muss man sich bewusst sein.
Nun kann man das einfach so akzeptieren und hinnehmen, eine nicht sehr wissenschaftliche Haltung. Man kann aber auch nach Erklärungen dafür suchen und Überraschung, die Evolutionstheorie erklärt es.
Sie erklärt auch, warum in einem anderen Modellorganismus,
C. elegans (ein Nematode), viele grundlegende Stoffwechselwege wie z. B.
Apoptose immer noch relativ ähnlich zu denen in Säugetierzellen ablaufen, wenn auch die Unterschiede im Einzelnen sehr viel größer sind, und warum es
überhaupt möglich ist, selbst Tiere wie
C. elegans und
D. melanogaster, die so unähnlich zum Menschen erscheinen, als Modellorganismen verwendet werden können.
Much of the understanding of cell death has come from genetic studies in the nematode C. elegans by which several genes have been identified that function in the apoptotic killing and elimination of 131 of the initially 1090 somatic cells that are generated druing hermaphrodite development [Hengartner, 1999]. The proximal cause of apoptosis in C. elegans is the activation of the cysteine protease ced-3, which is mediated by its oligomerization at the activator protein ced-4. Activity of the ced-3/ced-4 complex is regulated by the apoptosis inhibitor ced-9 and the apoptosis inducer egl-1 (Figure 3). Subsequent studies in mammals and in the fly, D. melanogaster, have identidied counterparts for these C. elegans genes, demonstrating that the core components of the cell death machinery are conserved through evolution [Richardson, 2002]. Accordingly, ced-3 is the single C. elegans member of a family of cysteine proteases, the caspases, whereas ced-4 corresponds to the mammalian apoptotic protease activating factor 1, Apaf-1, which is the core of a caspase-activating signalling complex, the apoptosome. Egl-1 and ced-9 are members of the Bcl-2 family of pro- or antiapoptotic proteins, respectively, which play an important role in the mediation and regulation of apoptotic signalling pathways. All of those central components will be discussed within the following paragraphs. [...]
The term caspases is derived from cysteine-dependent aspartate-specific proteases: their catalytical activity depends on a critical cysteine-residue within a highly conserved active-site pentapeptide QACRG, and the caspases specifically cleave their substrates after Asp residues. So far, 7 different caspases have been identified in Drosophila, and 14 different members of the caspase-family have been described in mammals, with caspase-11 and caspase–12 only identified in the mouse [Denault, 2002; Richardson, 2002]. According to a unified nomenclature, the caspases are referred to in the order of their publication: caspase-1 is ICE (Interleukin-1ß-Converting Enzyme), the first mammalian caspase described to be a homologue of Ced-3 [Creagh, 2001; Miura, 1993].
[Quelle: Celldeath.de]Dies ist nur ein Beispiel von buchstäblich Tausenden.
All diese Funde können durch eine gemeinsame Abstammung und Evolution erklärt werden und machen auch nur so Sinn.
Oder um es mit dem altbekannten Dobzhansky-Zitat zu sagen:
Seen in the light of evolution, biology is, perhaps, intellectually the most satisfying and inspiring science. Without that light it becomes a pile of sundry facts some of them interesting or curious but making no meaningful picture as a whole.
[Quelle: "Nothing in Biology Makes Sense Except in the Light of Evolution", The American Biology Teacher, March 1973, p. 129.]Zu sagen, dass die Evolutionstheorie in der biologischen Forschung keine Rolle spielt, ist so, als würde man sagen, dass Physik/Optik für eine Kamera keine Rolle spielt. Natürlich kann jeder Depp sich eine Kamera kaufen und damit Photos machen, ohne von Optik eine Ahnung zu haben. Aber Sinn macht die ganze "Methode" nur, wenn man über Optik Bescheid weiß.
Oder wenn man es unbedingt mit Autoteilen vergleichen will, dann wäre Evolutionsbiologie nicht der Mercedesstern, sondern wohl eher die Reifen.
MfG,
JLT