10 June 2008

Noch mal für Wolf-Dieter: Warum der "Schnabeltier-Gencocktail" kein Schierlingsbecher für "Evolutionisten" ist.

Wolf-Dieter fragte in einem Kommentar dies:

Erwartet man, wenn man Evolution voraussetzt, eigentlich auch so einen Gen-Cocktail wie beim Schnabeltier, dass ja nun leider kein Nachkomme eines Missing Links zwischen Säugetier und Vogel, etc. sein kann?
Meine Reaktion war nicht allzu freundlich ('Wolf-Dieter, dies ist *nur* für Dich!') und auch nicht allzu ausführlich, da ich nicht wirklich davon ausgegangen bin, dass Wolf-Dieter tatsächlich an einer Erklärung interessiert ist. Offenbar habe ich mich geirrt, denn darauf folgte dieser Kommentar:
Kennst Du zufällig den Spruch: Es gibt keine dummen Fragen, nur dumme Antworten? Der letzte Satz war eine Frage.
Na, wenn ich so nett gebeten werde, kann ich doch nicht Nein sagen.

Was erwartet man, wenn man Evolution voraussetzt?

Ganz kurz gesagt, man erwartet, dass *alle* Organismen einen "Gen-Cocktail" aus entwicklungsgeschichtlich unterschiedlich alten Genen enthalten.
Also: Manche Gene* findet man beispielsweise sowohl bei Reptilien (zu denen die Vögel gehören) als auch bei Säugetieren (z. B. bei Schnabeltieren und Menschen), aber bei keiner anderen Organismengruppe. Diese Gene waren also aller Wahrscheinlichkeit nach im letzten gemeinsamen Vorfahren von Säugetieren und Reptilien schon vorhanden. Im Laufe der Evolution sind in beiden Linien, der zu den heutigen Säugetieren führenden und der zu den heutigen Vögeln führenden, neue Gene entstanden und alte durch Mutationen funktionslos geworden ("verloren gegangen"). Aber da die beiden Linien schon getrennt waren, sind diese Veränderungen unabhängig voneinander. Ein Gen, das in der Säugetierlinie durch Mutationen funktionslos wurde (beispielsweise, weil durch veränderte Umweltbedingungen die Genfunktion keinen Selektionsvorteil mehr darstellte), kann in der anderen Linie durch konservierende Selektion erhalten bleiben. Eine neue Genfunktion, die in der einen Linie entsteht und sich durchsetzt, da sie für diese Linie einen Selektionsvorteil bietet, entsteht in der anderen Linie gar nicht erst.
D. h. je länger sich die beiden Linien getrennt von einander entwickeln, umso größer werden die Unterschiede zueinander (und zu ihrem gemeinsamen Vorfahren).
Es gibt, wenn man so will, fünf verschiedene "Typen" von Genen:
(A) Gene des gemeinsamen Vorfahrens, die in beiden Linien erhalten blieben (entspricht (3) in der Abbildung),
(B) Gene, die in der Säugetierlinie neue entstanden (entspricht z. B. (1)),
(C) Gene, die in der Reptilienlinie neu entstanden,
(D) Gene des gemeinsamen Vorfahrens, die in der Säugetierlinie erhalten blieben, aber in der Reptilienlinie nicht (entspricht (2)) und
(E) Gene des gemeinsamen Vorfahrens, die in der Reptilienlinie erhalten blieben, aber in der Säugetierlinie nicht.

Nach der Abspaltung der Monotremata (zu denen die Schnabeltiere und die Ameisenigel gehören, nenne ich der Einfachheit halber "Schnabeltierlinie") von den "restlichen" Säugetieren passierte das Gleiche. Einige Gene, die bei der "Schnabeltierlinie" verloren gingen, sind in anderen Säugetieren erhalten geblieben und umgekehrt. In der "Schnabeltierlinie" sind neue Genfunktionen entstanden, die in der anderen Säugetierlinie nicht entstanden und umgekehrt.
Es gibt also wieder fünf Typen von Genen:
(A) Gene des gemeinsamen Säugetiervorfahrens, die sowohl in der Linie, aus der die Schnabeltiere hervorgingen, als auch in der, aus der die Menschen hervorgingen, erhalten geblieben sind. Dies können sowohl "alte" Gene sein, die schon im gemeinsamen Vorfahren der Säugetiere und Reptilien vorhanden waren und deswegen auch in der Reptilienlinie und dementsprechend auch bei Vögeln vorkommen können (dunkelblaue "Gene" in der Abb.), es können aber auch "neuere" Gene sein, d. h. die nach der Aufspaltung von Reptilien und Säugetieren entstanden, also *nicht* in der Reptilienlinie vorkommen können (hellblau).
(B) Gene, die in der "Schnabeltierlinie" neu entstanden, also in keiner der anderen Linien vorkommen können (gelb),
(C) Gene, die in der anderen Säugetierlinie neu entstanden (grün) und
(D+E) Gene, die in der "Schnabeltierlinie" erhalten blieben, aber in der anderen Linie verloren gingen oder umgekehrt. D. h. in der Schnabeltierlinie kann z. B. ein "altes" Gen erhalten bleiben, das auf den gemeinsamen Vorfahren mit Reptilien zurückgeht und auch in der Linie, aus der die Vögel hervorgingen, erhalten blieb, während dies Gen in der Linie, aus der die Menschen hervorgingen, verloren ging. Das Schnabeltier hat also ein Gen mit den Vögeln gemeinsam, das in den anderen Säugetieren nicht vorkommt (entspricht (5)). Aber genau das Gleiche gibt es auch andersherum! Auch in der Linie, aus der die Menschen hervorgingen, sind "alte" Gene erhalten geblieben, die in der "Schnabeltierlinie" verloren gingen. D. h. auch der Mensch kann ein Gen mit Vögeln gemeinsam haben, das in Schnabeltieren nicht vorkommt (entspricht (4)). Und das ist überhaupt nicht überraschend, sondern exakt das, was man erwartet, wenn man Evolution voraussetzt.

Ein Beispiel für ein Gen, das Schnabeltiere mit Vögeln gemeinsam haben, ist ein Eidottergen. Vögel haben drei Eidottergene, der gemeinsame Vorfahre von Säugetieren und Vögeln hatte wahrscheinlich auch drei dieser Gene (Vitellogenin-Gene; Vitellogenin: "Eidottermacher"), das Schnabeltier hat nur noch eins. Neben dem funktionsfähigen Vitellogenin-Gens findet sich im Genom des Schnabeltiers auch noch eine Sequenz, die einem der anderen Vitellogenin-Gene der Vögel sehr ähnlich ist, aber kein Protein mehr kodiert/nicht mehr abgelesen wird. Menschen haben überhaupt kein funktionsfähiges Vitellogenin-Gen mehr. Aber Überreste von zwei, möglicherweise aller drei Vitellogenin-Gene können im menschlichen Genom identifiziert werden. Siehe dazu auch mein Post: 'Ein Post über Missverständnisse, Milch und Mammalia'.

Ich hoffe, ich konnte deutlich machen, warum die Behauptung in Wolf-Dieters ursprünglichen Kommentar tatsächlich der komplette Unsinn ist, als den ich sie in meiner ersten Reaktion bezeichnet habe. Es ist eine *Vorhersage* der Evolutionstheorie, dass Organismen entstehungsgeschichtlich unterschiedlich alte Gene enthalten *müssen* und ein solches Muster wurde nicht nur im Schnabeltiergenom gefunden, sondern wurde bisher in jedem sequenzierten Genom gefunden. Zu sagen, weil das Schnabeltier ein solches Muster aufweist, könnte es nicht mit der Evolutionstheorie erklärt werden, ist in etwa so sinnvoll wie die Behauptung, die Gravitationstheorie könnte nicht erklären, warum Äpfel vom Baum nach unten fallen.

MfG,
JLT




* Diese Gene sind natürlich nicht komplett identisch, aber die (Grund-) Funktion ist erhalten geblieben und auch die Sequenz der Gene ist sich relativ ähnlich. "Stille "Mutationen (also Veränderungen/Unterschiede der Gensequenzen, die die Sequenz der kodierten Proteine nicht verändern) überwiegen.

** Ich spreche von Genfunktion, weil das Casein-Gen möglicherweise aus einem Gen, das an der Bildung von Zahnschmelz beteiligt ist, entstand (nach dessen Duplikation).

4 Kommentare:

Wolf-Dieter said...

Okay, ich habs kapiert...

Ach nee, doch nicht. Mein Verständnis der Angelegenheit ist zugegebenermaßen wohl eher laienhaft, trotzdem seien mir noch drei dumme Fragen gestattet (da sie nur entweder dumm, bösartig oder geisteskrank sein können, nenne ich sie einfach mal dumm): Das Schnabeltier hat ja nun einen ziemlich einzigartigen Status. Eine klassenübergreifende, phänotypische Merkmalsverteilung ist ja eher selten. Es mag ja möglich sein, dass Menschen noch ein Gen mit Vögeln, etc, gemeinsam haben, aber von außen sieht man ja nix davon. Wenn nun das, was diese einzigartige Merkmalsverteilung beim Schnabeltier verursacht, so haargenau das ist, was man als Evolutionsbiologe erwartet, warum sehen dann nicht alle Tiere so lustig aus?

Zweite Frage: Hatte der gemeinsame Vorfahre von Säugetieren und Vögeln schon einen Schnabel? Wenn nicht, warum hat das Schnabeltier dann einen selbigen?

Dritte Frage: Mal angenommen, man findet Fossilien eines Tieres, dass anatomisch sowohl Merkmale von Reptilien und Säugetieren aufweist, woher weiß man, dass es sich einfach um ein Tier handelt, dass halt noch "alte Gene" hat, wie das Schnabeltier, oder eventuell um eine Übergangsform zwischen Reptilien und Säugetieren?

Ein neuer Extra-Thread dazu muss übrigens nicht unbedingt sein, es sei denn, die Fragen sind doch nicht so dumm (bösartig, geisteskrank) wie gedacht. ;)

JLT said...

Hi Wolf-Dieter,

den Extra-Thread gab's nur, weil man manches am Besten mit einer Grafik erklären kann und ich keine Abbildungen in den Kommentaren posten kann.
Was Deine Fragen angeht, vor allem die Dritte ist eine sehr Interessante, gar nicht Dumme ;-)

Zu Deiner ersten Frage:
"Es mag ja möglich sein, dass Menschen noch ein Gen mit Vögeln, etc, gemeinsam haben, aber von außen sieht man ja nix davon. Wenn nun das, was diese einzigartige Merkmalsverteilung beim Schnabeltier verursacht, so haargenau das ist, was man als Evolutionsbiologe erwartet, warum sehen dann nicht alle Tiere so lustig aus?"

Zunächst mal, sehr viele anatomische Merkmale des Menschen sind ganz und gar nicht Menschenspezifisch. Wir haben mit den Vögeln, Reptilien und Schnabeltieren anatomisch eine ganze Menge gemeinsam, darum werden wir alle zusammen zu den Wirbeltieren gezählt.
Selbst mit noch weiter entfernten Tieren gibt es anatomischen Gemeinsamkeiten, beispielsweise haben schon Haie Bogengänge im Innenohr als Gleichgewichtsorgan, die denen des Menschen sehr ähnlich sehen (Haie z. B. hier oder hier und das Innenohr des Menschen sieht so aus). Ich lese gerade "Your inner fish" von Neil Shubin (dem Entdecker von Tiktaalik), in dem es nur um Gemeinsamkeiten in der Anatomie von Menschen und anderen Tieren geht, die auf ihre gemeinsame evolutionsgeschichtliche Herkunft zurückgehen, es gibt wirklich sehr, sehr viele Beispiele für auch phänotypisch sichtbare Gemeinsamkeiten.

Warum sehen nicht alle Tiere so lustig aus – hmm. Die Schnabeltiere und Ameisenigel sind die beiden letzten Arten der Gruppe der Metatheria ("Ursäuger"), die heute noch leben. Deshalb ist uns ihre Anatomie nicht so vertraut wie beispielsweise die der Vögel. Aber nehmen wir mal an, es gäbe nur zwei Arten von Vögeln, die irgendwo überlebt haben, z. B. Strauße und Pinguine. Sie zählen zu den Reptilien, aber sie sehen ganz anders aus als die ganzen anderen Reptilien. Würden wir dann nicht auch sagen, das ist ein ganz seltsamer Auswuchs der Evolution? Ich denke, dass uns Schnabeltiere so seltsam vorkommen, ist einfach eine Folge davon, dass uns diese Art Tier so unvertraut ist. Wie gesagt, würden wir nie Vögel sehen und würden dann auf ein Bild von Pinguinen stoßen, würden wir wahrscheinlich genauso reagieren.

Zu Deiner zweiten Frage:
"Zweite Frage: Hatte der gemeinsame Vorfahre von Säugetieren und Vögeln schon einen Schnabel? Wenn nicht, warum hat das Schnabeltier dann einen selbigen?"

Der Schnabel der Schnabeltiere ist ganz anders aufgebaut als der der Vögel, er ist eine Neuentwicklung der Schnabeltiere. Zum Vergleich kannst Du Dir Bilder von Vogelschädeln anschauen hier und einen Schnabeltierschädel hier.
Der Oberkiefer bei Schnabeltieren ist gespalten. Der Schnabel ist nicht hart, sondern eher gummiartig und enthält z. B. das elektrosensorische Organ. Bei Vögeln bildet der Oberkiefer den gesamten Schnabel und ist mit sehr hartem Horn überzogen.
Die Schnäbel von Vögeln und Schnabeltieren mögen zwar ähnlich aussehen, gehen aber nicht auf einen gemeinsamen Vorfahren zurück, sondern wurden unabhängig voneinander und auf unterschiedliche Weise bei Vögeln und Schnabeltieren neu gebildet.

Zu Deiner dritten Frage:
"Dritte Frage: Mal angenommen, man findet Fossilien eines Tieres, dass anatomisch sowohl Merkmale von Reptilien und Säugetieren aufweist, woher weiß man, dass es sich einfach um ein Tier handelt, dass halt noch "alte Gene" hat, wie das Schnabeltier, oder eventuell um eine Übergangsform zwischen Reptilien und Säugetieren?"

Die einfache Antwort ist: Man weiß es nicht. Es ist unmöglich zu unterscheiden, ob man es mit einem direkten Vorfahren der heute lebenden Reptilien und Säugetiere handelt oder nur um einen "Cousin", dessen Linie ausgestorben ist.
Ein Beispiel wäre Archaeopteryx, der nach allem, was wir wissen, kein direkter Vorfahre heute lebender Vögel ist, sondern nur zu einer Schwestergruppe der Gruppe gehörte, von der die heute lebenden Vögel abstammen.
In diesem Fall kann man das noch relativ gut entscheiden, da einige wirklich perfekt erhaltene Fossilien von Archaeopteryx gefunden wurden, die neben Merkmalen, die man bei einem tatsächlichen Vorfahren zu finden erwarten würde, auch Merkmale gefunden hat, die Archaeopteryx-spezifisch sind, also in keinem heute lebenden Vogel erhalten geblieben sind (außerdem kommt es zeitlich nicht ganz hin).
Man kann allerdings, da Archaeopteryx in jedem Fall sehr nahe mit dem tatsächlichen Vorfahren verwandt war (die Abspaltung der Vögel lag viel kürzer zurück), aus der Anatomie von Archaeopteryx Rückschlüsse darauf ziehen, wie der Übergang zu den Vögeln ausgesehen hat. Als ganz einfaches Beispiel weiß man (u. a.) dadurch, dass die Zähne bei Vögeln erst später "verloren" gegangen sind, während die Federn schon lange vorhanden waren.

Genauso kann man am Schnabeltier sehen, wie ein Übergang vom Eierlegen/Dotter zur Lebendgeburt/Säugen verlaufen sein kann (wie beim Schnabeltier hat wahrscheinlich zunächst das Säugen die Ernährung der Jungen nur unterstützt, die ersten Entwicklungsstadien fanden noch im Ei statt).

Um zu wissen (oder jedenfalls eine gute Idee davon zu haben), wie Übergangsformen ausgesehen haben, muss man nicht "die" tatsächliche Übergangsform finden.
Und wie gesagt, selbst wenn man sie fände, kann man nicht wissen, ob sie es tatsächlich ist, oder "nur" so aussieht. Um dies wirklich bestimmen zu können, müsste man das Genom der "Übergangsform" haben.

Ich hoffe, Du kannst mit meinen Antworten etwas anfangen. Wenn ich noch weitere Klarheiten beseitigen kann, immer raus mit der Sprache ;)

MfG,
JLT

JLT said...

Noch etwas, dass ich eben vergessen habe:

"Es mag ja möglich sein, dass Menschen noch ein Gen mit Vögeln, etc, gemeinsam haben, aber von außen sieht man ja nix davon."

Wir haben nicht nur ein Gen mit Vögeln gemeinsam, sondern einen Großteil unseres Genoms. Selbst mit Fadenwürmern und Korallen haben wir einen beträchtlichen Teil Gene gemeinsam - diese Tatsache ist ein wichtiger Beleg für unsere gemeinsame Abstammung.

Gerade habe ich auch entdeckt, das Your inner fish mittlerweile auch auf Deutsch zu haben ist, z. B. bei Amazon: Der Fisch in uns.

Es ist sehr verständlich, humorvoll und unterhaltsam geschrieben und man braucht keine großartigen biologischen Vorkenntnisse. Kann ich nur wärmsten empfehlen.

MfG,
JLT

Anonymous said...

"Man kann allerdings, da Archaeopteryx in jedem Fall sehr nahe mit dem tatsächlichen Vorfahren verwandt war (die Abspaltung der Vögel lag viel kürzer zurück), aus der Anatomie von Archaeopteryx Rückschlüsse darauf ziehen, wie der Übergang zu den Vögeln ausgesehen hat."

Ich wage zu behaupten das gerade die Genetik in den letzten 15 Jahren die traditionelle Systematik in vielen Bereichen überrascht hatte. Insofern sollte man sich niemals auf phänotypische Vergleiche verlassen, und auch sonst von homologen Genen und deren Divergenz im laufe der Zeit ERST dann sprechen, wenn konservierte Sequenzen in "Tandemposition" konserviert geblieben sind. (Z.Bsp wie die meisten Histone)