Gerade wurde in Australien (in der sog. Gogo Formation) das Fossil eines Panzerfischs entdeckt, das für einiges Aufsehen sorgte, weil es einen Embryo enthält, der über eine Nabelschnur mit dem Muttertier verbunden ist. Auch eine Struktur, die einen Dottersack darstellen könnte, ist erhalten. Panzerfische (Placodermen) sind eine ausgestorbene Gruppe von Wirbeltieren, die während des Devons ihre Blütezeit hatten, vor 420 - 360 Mio. Jahren. Die Panzerfische stellen wahrscheinlich eine Schwestergruppe zu den Vorfahren der heutigen Haie und Knochenfische dar. Das gefundene Exemplar wurde Materpiscis attenboroughi getauft und lebte vor etwa 380 Mio. Jahren*.
Der Fund ist deswegen außergewöhnlich, weil es der früheste Nachweis für Lebendgeburten in Wirbeltieren darstellt - fast 200 Mio. Jahre älter als der bisher bekannte älteste Nachweis.
Welche Auswirkungen hat dieser Fund auf Vorstellungen zur Evolution der Wirbeltiere?
Long, einer der Autoren des Nature-Artikels, in dem der Fund vorgestellt wird, formuliert es so:“Our ongoing investigations suggest that viviparity is more widespread than previously thought in early placoderms,” says Long, alluding to current efforts to scan other Gogo specimens for embryos.
[Quelle und Bild-Quelle: Nature News]
Der schwedische Paläontologe Per Ahlberg beschreibt die Bedeutung des Fundes so:The new discovery is important, Ahlberg says, because placoderms are completely extinct, unlike other evolutionary branches that have living descendants from which functional and structural information can be inferred.
[Quelle: Nature News]
War dieser Fund eine totale Überraschung? Nicht wirklich:Palaeontologists will be excited but not completely surprised by the findings, because many suspected that some placoderms fertilized internally. The males of a sub-group of placoderms, called ptyctodontids, have clasper-like appendages dangling from their pelvic fins — these are reminiscent of the claspers of modern sharks that are used to inseminate females.
[Quelle: Nature News]
Alles in allem also ein wichtiger und interessanter Fund, aber nicht wirklich weltbewegend, würde man meinen. Wenn man nicht Die Zeit liest. Die titelt nämlich so:Die Ur-Mutter
[Quelle: Die Zeit]
In Australien fanden Forscher das bisher älteste Fossil eines lebendgebärenden Fischs. Das stellt gängige Evolutionstheorien infrage.
Wie um alles in der Welt kommen die denn auf das schmale Brett? Für diese Aussage gibt es nicht die geringste Grundlage. Wieso sollte es die Evolutionstheorie infrage stellen, wenn ein paar Placodermen lebend gebaren? Wenn sie an der Nabelschnur ein Minikaninchen gefunden hätten, DANN würde es "gängige Evolutionstheorien infrage [stellen]"...**
Völlig vorhersehbar findet sich im Kommentarbereich der Zeit dann auch gleich ein komplett Ahnungsloser ein, den der Artikel zu folgender Aussage verleitete:Ist das lustig!!! Schon wieder wurden die Evolutionisten von den Fossilien verärgert!!! Das wird auch weiterhin so gehen, denn es ist einfach nicht so wie sie es gern hätten, die Lebewesen haben sich nicht mit zeit entwicklt, sie und wir waren immer schon so... [Kommentar Nr. 3]
(Auch die anderen Kommentare von ihm (ihr?) sind von geradezu monumentaler Ahnungslosigkeit. Gebe ich hier aber nicht wieder, da das Lesen Gehirnzellen abtötend wirken kann, wenn man nicht über ein ausreichendes Training verfügt.)
Tatsächlich befindet sich dieser Kommentator aber in sehr "guter" Gesellschaft. Creation on the Web*** bringt es mit faszinierender Quotemine-Technik, in Kombination mit einer gekonnten Verwendung von Non sequiturs fertig, diesen Schluss zu ziehen:No, Materpiscis attenboroughi, like all organisms living and that have ever lived, is not ‘primitive’. Rather it testifies to having been designed, just as the Bible says. The particular fossil specimen enjoying a blaze of publicity at present was not the world’s first mother. It’s true she died while giving birth. She died because about 1,600 years earlier, the first man rebelled against his Creator, and the whole Creation has had to suffer death ever since.
Richtig. Dieser schwangere Fisch starb wegen eines Apfels.
AAAAAAaaaaaarrgh. Da gehen sie hin, meine Gehirnzellen. Diese Dosis Kreationisten-"Logik" [eher eine Art Anti-Logik, die jegliche in der Nähe befindliche Logik nihiliert] war selbst für meinen durch langes Training aufgebauten Abwehrschirm zu stark.
Wie Lewis Black es so treffend formulierte:[T]hat's the kind of sentence that when your brain hears it, it comes to a screeching halt. And the left-hand side of the brain looks at the right-hand side of the brain and says, 'It's dark in here, and we may die.'
MfG,
JLT
* John A. Long, Kate Trinajstic, Gavin C. Young & Tim Senden (2008): Live birth in the Devonian period. Nature 453, 650-652 [Abstract]
** Dass es auch besser geht mit der Berichterstattung, kann man sich bei SpiegelOnline anschauen, da gibt es auch ein kurzes Filmchen zu dem Fund: Link zum Video
*** Ich übernehme keinerlei Verantwortung für eventuelle negative Auswirkungen, physischer oder psychischer Art, die aus einem Lesen dieses Textes entstehen. Das Folgen dieses Links erfolgt auf eigene Gefahr!
13 Kommentare:
Um ein paar der Gehirnzellen wiederzubeleben: Die Art ist tatsächlich nach Sir David Attenborough benannt, der bekannt ist durch seine großartigen Naturdokus für die BBC. Ich persönlich würde ja The Private Life of Plants empfehlen, in dem mit atemberaubenden Zeitrafferaufnahmen gearbeitet wurde, die Filme sind aber alle gut. Zu der Namensgebung kam es, weil Attenborough in einer Doku auch über die Gogo Formation und Placodermen berichtet hat.
[gebärten? Je öfter ich das lese, um so seltsamer sieht es aus.]
Zurecht, schließlich heißt es, man gebar, nicht man gebärte.
(add hier beliebigen Witz über Akademikerinnen und Fortpflanzung und 33 Kalauer über Bärte und Gebärden)
;-)
@ Kamenin:
Siehst Du! Ich habe den Creation on the web-Artikel genau vorher gelesen! Lasst Euch das alle eine Warnung sein!
Werde es trotzdem im Post ändern.... *schäm*
Danke!
JLT
< murmelt den ganzen Tag leise "ich *weiß*, dass es "gebar" heißt" vor sich hin>
< versucht sich Witz mit Akademiker(inne)n, Bärten, Geburten und Gebärden auszudenken>
"Für diese Aussage gibt es nicht die geringste Grundlage. Wieso sollte es die Evolutionstheorie infrage stellen..."
Du hättest Dir mal zu Herzen nehmen sollen, was Michael auf meinem Blog erzählt hat...
@ C. Heilig:
"Du hättest Dir mal zu Herzen nehmen sollen, was Michael auf meinem Blog erzählt hat..."
Geht's noch etwas unpräziser?
@ JLT: Netter Beitrag ;-)
@ C. Heilig:
Ich bin auch etwas am Rätseln, wovon Du sprechen könntest. Geht es mal wieder um die Evolutionstheorie vs. Theorien? Spielt doch hier überhaupt keine Rolle. Es gab lebendgebärende Placodermen. So what? Es gibt auch lebendgebärende Haie, deren Vorfahren gleichzeitig mit den Placodermen gelebt haben. Bei den Haien ist Viviparie ein abgeleitetes Merkmal, vielleicht ist sie es bei der Gruppe Placodermen auch? Immerhin wurde eine Struktur gefunden, die als Dottersack interpretiert werden kann. Bisher kann man dazu überhaupt keine weitergehenden Aussagen machen.
Wenn Du mir erklären kannst, wie dieser Fund "gängige Evolutionstheorien infrage [stellt]", nur heraus damit.
MfG,
JLT
@DU:
Ja, schau dir Lamarcks Kommentar zu Junkers Evo-Devo-Artikel an ;-).
@JLT:
Ich glaube nicht, dass der Fund die Evolution, die Evolutionstheorie oder irgendwelche Evolutionstheorien in Frage stellt.
Ich habe mich nur daran gestoßen, dass Du aus "gängen Evolutionstheorien" einfach so "die Evolutionstheorie" gemacht hast. War wohl keine Absicht, aber Du erreichst damit eine ziemliche Verzerrung des ursprünglich Geschriebenen(an dem es auch ohne diese unpräzise Wiedergabe genug zu kritisieren gibt).
Nach diesem Muster könnte ich dir einen Haufen Evolutionsbiologen zeigen, die nach "eigener Aussage" "die" Evolutionstheorie als widerlegt betrachten.
"Ich habe mich nur daran gestoßen, dass Du aus 'gängen Evolutionstheorien' einfach so 'die Evolutionstheorie' gemacht hast. War wohl keine Absicht, aber Du erreichst damit eine ziemliche Verzerrung des ursprünglich Geschriebenen"
Welche "gängige Evolutionstheorie" ist es denn nun, die durch diesen Fund infrage gestellt wird? Soweit ich es sehe, ist davon keine Evolutionstheorie, ja noch nicht einmal ein evolutionäres Modell betroffen, allenfalls eine singuläre Hypothese vom Strickmuster: "Vor 380 Mio. Jahren gab es noch keine lebendgebärenden Panzerfische."
"Nach diesem Muster könnte ich dir einen Haufen Evolutionsbiologen zeigen, die nach "eigener Aussage" "die" Evolutionstheorie als widerlegt betrachten."
Du streitest Dich um des Kaisers Bart. Muss, wer von "der" Atomtheorie spricht, immer darauf hinweisen, dass damit die "gängige" Atomtheorie in der üblichen quantenmechanischen Formulierung und nicht etwa das Bohrsche Modell gemeint ist?
Wer letzteres kritisieren wollte, um auf diese Weise "die" Atomtheorie zu widerlegen, müsste sich ohnehin den Vorwurf gefallen lassen, auf einen Pappkameraden zu schießen.
"Welche 'gängige Evolutionstheorie' ist es denn nun, die durch diesen Fund infrage gestellt wird? Soweit ich es sehe, ist davon keine Evolutionstheorie, ja noch nicht einmal ein evolutionäres Modell betroffen, allenfalls eine singuläre Hypothese vom Strickmuster: 'Vor 380 Mio. Jahren gab es noch keine lebendgebärenden Panzerfische.'"
Lieber D.U., manchmal lohnt es sich zu lesen. Ich habe bereits geschrieben, dass die Aussage hierdurch würde etwas in Frage gestellt in dem Sinne Quatsch ist.
Von Evolutionstheorien zu der Theorie zu wechseln ist trotzdem nicht sehr geschickt - stell dir mal vor, Reinhard würde sowas im SIJ machen... "Margulis stellt die Evolutionstheorie in Frage..."
Das wäre nicht fair, oder?
@ Christoph:
"Ich habe mich nur daran gestoßen, dass Du aus "gängen Evolutionstheorien" einfach so "die Evolutionstheorie" gemacht hast. War wohl keine Absicht, aber Du erreichst damit eine ziemliche Verzerrung des ursprünglich Geschriebenen(an dem es auch ohne diese unpräzise Wiedergabe genug zu kritisieren gibt)."
Mit Verlaub, das halte ich doch für ziemlich übertrieben. Immerhin steht das Zitat direkt darüber und im nächsten Satz zitiere ich noch mal wortgetreu. Dass das "eine ziemliche Verzerrung des ursprünglich Geschriebenen" darstellt, kann ich irgendwie nicht finden. Vielleicht wäre es besserer Stil gewesen, wenn ich durchgängig beim Plural geblieben wäre, aber es verändert weder den Sinn, noch das Zutreffende meiner Kritik.
Zu Evolutionstheorie vs. Evolutionstheorien:
*Die* Evolutionstheorie ist für mich der heute erreichte Konsens. *Evolutionstheorien* sind für mich die Ausformulierungen verschiedener "Denkschulen", die jeweils verschiedene Aspekte mehr betonen als andere, also beispielsweise bei der Frage, wie groß der Einfluss historischer "chance events" (neutrale oder fast neutrale Mutationen, Gendrift, Naturkatastrophen etc.) auf den Verlauf der Evolution ist, mit Gould am einen Ende (massiver Einfluss) und Conway Morris am anderen Ende (würde alles heute noch mal von vorne anfangen, würde die Evolution mehr oder weniger genauso ablaufen).
Da sich die meisten Diskussionen (außerhalb der Evolutionsbiologie) nicht darum drehen, ob nun z. B. Gould oder Morris recht hat, sondern eher darum, ob natürliche Prozesse alleine zur Erklärung von Evolution ausreichen (oder Evolution überhaupt stattfindet), finde ich es für den Normalgebrauch ziemlich unsinnig, auch noch zwischen verschiedenen Ausformulierungen der Evolutionstheorie zu unterscheiden.
Darum musst Du Dich wahrscheinlich auch in Zukunft über meine Verwendung "der" Evolutionstheorie weiterärgern und das höchstwahrscheinlich nicht nur, weil ich den Singular verwende ;)
Ich hoffe, das hält Dich nicht davon ab, weiter ab und an vorbeizuschauen.
MfG,
JLT
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