Passend zum vorletzten Post stelle ich heute einen Artikel vor, den ich schon länger auf meiner Liste habe, weil ich mit seiner Hilfe hoffentlich mit ein paar Missverständnissen zum Artbegriff (und anderen taxonomischen Einteilungen) und zur verwandten Frage, was Übergangsformen sind, aufräumen kann und den ich darüber hinaus auch noch sehr interessant finde:
Brawand et al. (2008). Loss of egg yolk genes in mammals and the origin of lactation and placentation. PLoS Biology 6(3): e63.
Die Säugetiere haben sich vor 225 bis 275 Mio. Jahren aus Reptilien-ähnlichen Vorfahren entwickelt. Was heißt das? Musste irgendwann aus einem Krokodilei eine Maus schlüpfen?
Natürlich nicht. Die Annahme, dass die "großen" Übergänge in der Evolutionsgeschichte (wie die Entstehung der Klasse Mammalia aus Vorfahren, die der Klasse der Reptilien zugeordnet werden) auch anatomisch und physiologisch besonders große "Sprünge" beinhalten müssen, ist auf ein Missverständnis der Grundlage von taxonomischen Einteilungen zurückzuführen.
Linnaeus (1707-1778) gilt als der "Vater" der taxonomischen Einteilung des Tier- und Pflanzenreiches in eine hierarchisch angeordnete Unterteilung, also in Reiche (z. B. Animalia), Phyla (z. B. Chordata), Klassen (z. B. Reptilia), Ordnungen (z. B. Crocodilia), Familien (z. B. Crocodylidae), Gattungen (z. B Alligator) und Arten (z. B. Alligator mississippiensis). Vor allem die binominale Bezeichnung von Arten, die aus dem Gattungsnamen und einem für jede Art spezifischen "Zunamen" besteht, stellte einen großen Fortschritt dar. Seine Unterteilung beruhte auf der Gruppierung jeweils morphologisch ähnlicher Arten zu Gruppen, die dann ihrerseits aufgrund gemeinsamer phänotypischer Eigenschaften zu größeren Gruppen zusammengefasst wurden. Linnaeus ging von einer Unveränderlichkeit der Arten aus und Variationen innerhalb einer Art, die er natürlich auch beobachtete, interpretierte er als Abweichungen von einer "Idealform".
Selbst wenn man "nur" die heute lebenden (rezenten) Arten betrachtet, ist die linnaeische Unterteilung wegen der Annahme der Unveränderlichkeit der Arten nicht unproblematisch; was ist "noch" eine Art, was sind "schon" zwei Arten? Das Problem wird noch verschärft dadurch, dass es keine einheitliche und auf alle Fälle anwendbare Definition von Art gibt."Species are groups of interbreeding natural populations that are reproductively isolated from other such groups."
Die häufig verwendete Definition, Arten seien Gruppen von sich miteinander fortpflanzenden natürlichen Populationen, die von anderen solchen Gruppen reproduktiv isoliert sind, ist aus verschiedenen Gründen nicht ideal, da sie nur auf sich sexuell fortpflanzende Organismen anwendbar ist und man nach dieser Definition beispielsweise Tiger und Löwen als eine Art betrachten könnte/müsste, da sie sich miteinander fortpflanzen können (auch wenn sie das in ihrem natürlichen Lebensraum nicht tun). Solche Hybridbildungen sind vor allem auch bei den Pflanzen sehr häufig (für eine ausführliche Diskussion über den Artbegriff siehe z. B. den Eintrag zu "Species" in der Stanford Encyclopedia of Philosophy oder Mayrs 'What is a Species, and What is Not?'; der deutsche Wikipedia-Artikel zu "Art" ist nicht besonders gut geschrieben, gibt aber auch einen Eindruck von den verschiedenen Artkonzepten und den jeweiligen damit verbundenen Schwierigkeiten).
[Mayr (1996). What is a Species, and What is Not? Philosophy of Science 63: 262-277]
Selbst die Zuordnung von Arten zu höheren Unterteilungsstufen ist nicht immer eindeutig. Nimmt man auch die ausgestorbenen und nur als Fossilien bekannten Tier- (und Pflanzen-) Arten dazu, wird die taxonomische Einordnung in vielen Fällen noch schwieriger. Der Grund dafür ist natürlich, dass Arten *nicht* unveränderlich sind.
Heute versucht man, Tier- und Pflanzenarten aufgrund ihrer Abstammungsgeschichte zu gruppieren. Idealerweise ist jede Gruppe (egal auf welcher Hierarchieebene) monophyletisch, d. h. man versucht die einzelnen Arten/Gattungen/Familien etc. so zu Gruppen zusammenzufassen, dass jede Gruppe jeweils einen (und nur einen) gemeinsamen Vorfahren hat (in der Kladistik wird auf eine hierarchische Klassifizierungen völlig verzichtet, dort gibt es nur Abstammungsgruppen, Kladen). Anders als bei einer typologischen Beschreibung wie bei Linnaeus wird nicht der gesamte Merkmalskomplex kennzeichnend ("typisch") für eine Gruppe angenommen, sondern es wird versucht, die jeweils abgeleiteten (synapomorphen) Merkmale einer Gruppe herauszufinden. Dies sind Merkmale, die alle Mitglieder einer Gruppe aufweisen, aber kein Mitglied einer anderen Gruppe, also evolutionäre "Neuerwerbungen".
Bei den Säugetieren sind dies u. a. vier Merkmale, die alle Säugetiere gemeinsam haben, aber bei keiner anderen Gruppe zu finden sind: Drei Mittelohrknochen, nur ein Unterkieferknochen, Haare und die Fähigkeit zur Milchproduktion (Laktation). Die Schwierigkeit bei der Zuordnung von Fossilien ist recht offensichtlich: Die Fähigkeit zur Milchproduktion ist bei einem Fossil in der Regel nicht feststellbar, auch bei den heute lebenden Säugetieren gibt es solche, die sekundär haarlos sind und zudem sind in den meisten Fällen nur die Knochen als Fossilien erhalten, so dass es keine Hinweise darauf gibt, ob Haare vorhanden waren oder nicht. Ob ein Fossil den Säugetieren zuzuordnen ist oder nicht, kann also in der Regel nur über Schädelmerkmale entschieden werden.
Links sind die schematischen Darstellungen eines Therapsidenschädels (die reptilienähnlichen Vorfahren der Säugetiere) und eines frühen Säugetiers gegenübergestellt. Therapsiden hatten zwei Kiefergelenke (ein primäres, "reptilienartiges" und ein sekundäres, "säugetierartiges" Kiefergelenk), einen einzelnen Mittelohrknochen (wie Reptilien) und der Unterkiefer bestand noch aus mehr als einem Knochen [Bild-Quelle].
Wir wissen also nicht, ob ein Fossil, dass aufgrund seiner Schädelform (und anderer Merkmale) den Säugetieren zugerechnet wird, Haare hatte und/oder zur Milchproduktion fähig war. Es war sicher nicht so, dass alle drei Merkmale gleichzeitig und "in einem Rutsch" entstanden sind. Gerade was die Schädelform angeht, sind viele Übergangsformen gefunden worden, in denen beispielsweise die "zusätzlichen" Unterkieferknochen immer kleiner werden, das sekundäre Kiefergelenk prominenter wird etc.. Und nur, weil eine Fossilform "schon" als Säugetier bezeichnet wird, heißt das nicht, das es auch nur annähernd wie ein heute lebendes Säugetier ausgesehen hätte; in vielen anderen Merkmalen kann es noch Reptilien-artig sein oder eine intermediäre Ausprägung haben.
Und da wären wir bei dem zweiten Missverständnis. Vielfach wird angenommen, dass ein als Übergangsform bezeichnetes Fossil ein direkter Vorfahre sein müsse oder ein Fossil in *allen* Eigenschaften intermediär sein muss, um eine Übergangsform darzustellen. Tatsächlich geht es darum, Übergangsformen *einzelner Merkmale* zu finden, die einen Hinweis darauf geben, wie der tatsächliche Vorfahre ausgesehen hat. Es ist unmöglich festzustellen, ob ein bestimmtes Fossil oder die durch dieses Fossil repräsentierte Tiergruppe tatsächlich der *direkte Vorfahre* war – aber wenn man annimmt, dass die Säugetiere (mit einem sekundärem Kiefergelenk) von Reptilien (mit einem primären Kiefergelenk) abstammen, dann muss es irgendwann eine Form gegeben haben, die beide Kiefergelenke gleichzeitig gehabt hat. Wie z. B. die Therapsiden.
Auch wenn wir nicht genau wissen, *welche* Therapsiden die *direkten* Vorfahren der Säugetiere waren, können wir doch mit einiger Sicherheit annehmen, dass der direkte Vorfahre zu den Therapsiden gehörte. Dazu aber später noch mehr.
Was wissen wir sonst noch über die Eigenschaften der Säugetiervorfahren? Reptilien legen (i. d. R.) Eier und die Jungen werden während ihrer Entwicklung durch Eidotter ernährt. Eine andere Möglichkeit der Versorgung gibt es nicht. Säugetiere sind dagegen dadurch gekennzeichnet, dass sie zur Versorgung ihrer Jungen Milch produzieren. Die meisten Säugetiereier enthalten wenig oder gar kein Eidotter mehr. Die Eutheria oder "Plazentatiere" versorgen ihre Jungen zusätzlich noch durch eine Plazenta, während die rezenten Vertreter der Metatheria, die Beuteltiere, eine "Dottersack"-Plazenta haben, über die die Embryos in der frühen Entwicklung ernährt werden, bevor sie nach einer gegenüber den Eutheria stark verkürzten Schwangerschaft während der weiteren Entwicklung im Beutel gesäugt werden. Die Prototheria, deren einzige rezenten Vertreter die zu den Monotremata gehörenden Schnabeltiere und Ameisenigel sind, legen Eier mit einem gegenüber Reptilieneiern stark verminderten Dottergehalt. Sie haben keine Zitzen, bei ihnen tritt die Milch an sogenannten Milchflecken aus und wird von den Jungen nach dem Schlüpfen aus dem Fell geleckt.
Tatsächlich geben die Monotremata [links im Bild ein Schnabeltier; Bild-Quelle: Wikipedia] schon einen Hinweis darauf, wie der Übergang von der Ernährung der Jungen ausschließlich durch Dotter hin zu der Ernährung, wie sie bei Beutel- und Plazentatieren zu finden ist, abgelaufen sein könnte. Die Milchproduktion hat zuerst als zusätzliche Nahrungsquelle für die Jungen nach dem Schlüpfen gedient und hat später Eidotter als Nahrungsquelle zunehmend überflüssig gemacht. Jetzt könnte man dies natürlich als "Just so"-Geschichte abtun, das Schöne ist aber, dass "Just so"-Geschichten die (für manche) unbequeme Eigenschaft haben, sich durch wissenschaftliche Untersuchungen überprüfen zu lassen.
Der PLoS-Artikel von Brawand et al. beschäftigt sich mit einem Aspekt dieses Übergangs, dem "Schicksal" der Eidottergene. Von Fischen und Fröschen weiß man, dass die Menge des produzierten Eidotters von der vorhandenen Anzahl der für die Dotterproduktion verantwortlichen Gene abhängig ist – je mehr Vitellogenin-Gene (VIT; Vitellogenin = "Eidottermacher"), desto dotterreicher die Eier.
Hühner besitzen drei VIT-Gene, VIT1 – VIT3. Schon in einer vorangegangenen Arbeit hatten die Autoren gezeigt, dass diese von zwei Genen – VIT1 und VITanc (anc für ancestral) – abstammen, die schon bei der Auftrennung der Amphibien- und Reptilienlinien vor etwa 350 Mio. Jahren vorhanden waren. VITanc wurde früh im gemeinsamen Vorfahren von Säugetieren, Reptilien und Vögeln dupliziert, so dass VIT2 und VIT3 entstanden. In der Amphibienlinie kam es zu zwei unabhängigen Duplikationen, dafür ging VIT1 verloren.
Bei den lebendgebärenden Säugetieren, insbesondere den Plazentatieren, würde man erwarten, dass diese alle drei VIT-Gene im Laufe ihrer Entwicklung verloren haben. Darum untersuchten die Autoren die Genome zweier repräsentativer Arten (Hund und Mensch) auf die Präsenz von VIT-Genen. Tatsächlich konnten sie noch einige wenige Überreste ehemaliger kodierender Sequenzen (überwiegend von VIT1 und VIT3) identifizieren, die zudem in Regionen des Genoms lagen, die den VIT-Gen-enthaltenden Regionen bei Vögeln entspricht. Bei VIT1 fanden sie in einem der identifizierten Abschnitte übereinstimmende Insertionen/Deletionen (Indels) in beiden untersuchten Genomen. Daraus kann man schließen, dass VIT1 schon vor der Trennung der zu Hunden bzw. Menschen führenden Linien vor etwa 90-100 Mio. Jahren inaktiviert war. Eine Suche nach dem entsprechenden Abschnitt in dem Genom vom Gürteltier zeigte zwei übereinstimmende Indels mit dem entsprechenden VIT1-Abschnitt bei Menschen und Hunden, was eine noch frühere Inaktivierung wahrscheinlich macht. Auch bei den Beuteltieren konnten sie Überreste aller drei VIT-Gene entdecken.
Basierend auf dem Genom von Opossums untersuchten sie die mögliche zeitliche Abfolge der Inaktivierung dieser Gene bei den Beuteltieren. Danach erfolgte der Funktionsverlust von VIT3 zuerst, etwa vor 170 Mio J. (Konfidenzintervall: 110 – 240 Mio. J.). Es ist also nicht sicher, ob VIT3 vor der Aufspaltung von Plazentatieren und Metatheria, zu denen die Beuteltiere gehören, schon inaktiviert war, oder in beiden Linien unabhängig voneinander inaktiviert wurde. VIT1 verlor vor etwa 140 Mio. J. (KI: 90-200 Mio. J.) seine Funktion. Die Inaktivierung von VIT2 als letztes der Eidottergene wurde auf etwa 60 Mio. J. (KI: 30-90 Mio. J.) datiert. Ein unabhängiger Ansatz, bei der die entsprechenden Sequenzen von amerikanischen und australischen Beuteltieren verglichen wurde, ergab, dass die Inaktivierung vor mehr als 70 Mio. J. stattgefunden haben muss, vor der Auftrennungen dieser beiden Linien.
Sowohl bei den heutigen Plazentatieren als auch bei den Beuteltieren hat offenbar die Entwicklung der Milchproduktion und der Plazenta bzw. Dottersack-Plazenta nach und nach die Versorgung der Jungen mit Dotter ersetzt.Figure 1: The topology and divergence times of the tree are based on previous studies [19,24,25,41]. Latin crosses indicate VIT inactivation events in eutherians and monotremes. Inactivation estimates (including approximated 95% prediction intervals) based on opossum VIT sequences are indicated by colored bars at the top (see also Figure 3). Duplications (“x2”) are indicated. VITanc is the likely ancestor of both the amphibian vtgA1/vtgA2 and VIT2/VIT3 genes in birds. Functional VIT genes in extant species are indicated in red. The inactivation time of VIT1* on the amphibian branch could not be estimated because of its absence in Xenopus tropicalis [Xenopus = Krallenfrösche.
In der Milch hat Casein eine Funktion als Nährstofflieferant (Aminosäuren, Fette, Kalziumphosphat), die der des Vitellogenins im Eidotter entspricht. Die wahrscheinliche Abfolge der Evolution des Caseins ist schon aus früheren Artikeln bekannt (siehe Referenzen bei PLoS oder diesen im Volltext erhältlichen Artikel: Kawasaki K, Weiss KM (2003) Mineralized tissue and vertebrate evolution: the secretory calcium-binding phosphoprotein gene cluster. Proc Natl Acad Sci U S A 100: 4060–4065). Danach entwickelten sich die Casein-Gene etwa zu der Zeit der Abspaltung der Prototheria von der Linie, die zu den beiden anderen Säugetiergruppen führt.
Bei den Prototheria, repräsentiert durch das Schnabeltier, wurde VIT1 erst relativ kürzlich abgeschaltet, vor etwa 50 Mio J. (soweit man da von "kürzlich" sprechen kann). Ein zweites VIT-Gen, dass aufgrund der noch nicht abgeschlossenen Sequenzierung des Schnabeltiergenoms nicht eindeutig als VIT2 oder VIT3 identifiziert werden konnte (es besteht auch die entfernte Möglichkeit, dass es aus Teilen von beiden Genen zusammengesetzt ist), ist sogar noch über die gesamte Länge intakt, was für eine immer noch stattfindende positive Selektion des VIT2/3-Gens bei Schnabeltieren spricht. Dies konnte auch durch Vergleich mit den entsprechenden VIT-Genen von Vögeln und Amphibien noch einmal bestätigt werden.
Wie die Autoren feststellen:Thus, the egg-laying yet lactating monotremes reveal an intermediate state at the genomic level in terms of VIT function/inactivation (preservation of one, loss of the remaining functional VIT genes) that fits strikingly well with their intermediate reproductive phenotype, which is likely similar to that of the common mammalian ancestor. The diminished quantity of yolk relative to birds/reptiles, and hence the relative lack of nutrients (VTGs [Vitellogenin-Proteine]) in the platypus [Schnabeltier]/monotreme egg, was probably replaced by nutritive lactation (which emerged in the common mammalian ancestor) of the altricial offspring, as previously hypothesized.
Übersetzung: Die Eier legenden, aber auch Milch gebenden Monotremata befinden sich auf der Genomebene in einem intermediären Status, bezogen auf die VIT Funktion/Inaktivierung (eins wird aktiv erhalten, die anderen VIT-Gene sind verloren gegangen), der auffallend gut zu ihrem intermediären Fortpflanzungstyp passt. Dieser Fortpflanzungstyp ist dem des gemeinsamen Säugetiervorfahren wahrscheinlich sehr ähnlich. Die verringerte Eidottermenge verglichen zu Vögeln/Reptilien, und der daraus folgende relative Mangel an Nährstoffen (Vitellogenin-Proteinen) im Schnabeltier/Monotremata-Ei, wurde wahrscheinlich durch nährstoffreiche Milchabgabe (die sich im gemeinsamen Säugetiervorfahren entwickelte) an die "Nestlinge" ausgeglichen, wie schon früher hypothetisch angenommen wurde.
Um diese Annahme weiter zu unterstützen, suchten die Autoren noch nach Casein-Genen im Schnabeltiergenom und konnten tatsächlich drei mögliche Casein-Gene identifizieren, die in der gleichen Region liegen wie die entsprechenden Gene bei den anderen Säugetieren. Dadurch wird die Annahme, die Milchproduktion entwickelte sich schon im gemeinsamen Vorfahren aller Säugetier, weiter unterstützt (und die "Just so"-Geschichte noch etwas besser belegt).
So, "bewaffnet" mit diesen neuen Erkenntnissen noch einmal zurück zu den Übergangsformen. Die Autoren des PLoS-Artikels schreiben hier von einem intermediären Status der Schnabeltiere bezogen auf ihren Fortpflanzungsmodus. Sind deswegen Schnabeltiere Vorfahren der Säugetiere? Natürlich nicht. Zeigt uns das Schnabeltier, wie ein Übergang von einer Eier legenden Fortpflanzungsweise zur Lebendgeburt bei den Vorfahren der Plazenta- und Beuteltiere ausgesehen haben könnte? JA!
Ein wahrscheinliches Szenario sieht so aus:
Die frühesten Vorfahren aller Säugetiere legten wie die heutigen Schnabeltiere und Ameisenigel noch Eier mit Eidotter zur Versorgung der Embryos und Milch stellte nur eine ergänzende Nahrungsquelle für die Jungen dar.
Eine zunehmend effektive Milchversorgung (vermutlich auch durch eine spätere Duplikation eines Casein-Gens) verringerte den Selektionsdruck zur Beibehaltung aller drei Vitellogenin-Gene, so dass auch die Nachkommen der Tiere überlebten, bei denen durch Mutationen die Funktion eines oder auch zwei der drei Gene eingeschränkt oder auch ganz zerstört war (und dies natürlich auch an ihre Nachkommen weitergaben).
Die Entwicklung der Möglichkeit, den Embryo im Körper der Mutter effektiver als durch Diffusion mit Nährstoffen zu versorgen (woraus sich später die "echte" Plazenta der Eutheria oder die Dottersack-Plazenta der Beuteltiere entwickelte), machte nach der Abtrennung der Monotremata-Linie bei dem gemeinsamen Vorfahren der Plazenta- und Beuteltiere [links im Bild ein Oppossum; Bild-Quelle: Wikimedia] die Versorgung des Embryos mit Dotter schließlich ganz überflüssig, so dass bei diesen auch noch das letzte der drei VIT-Gene deaktiviert werden konnte.
Um wissen zu können, dass beispielsweise ein Übergang von Reptilien zu Säugetieren möglich ist oder stattgefunden hat, muss man nicht den direkten Vorfahren in Fossilform finden (oder eine ganze Reihe direkter Vorfahren). Sowohl anhand von Fossilfunden als auch an Untersuchungen rezenter Tiere wie der hier vorgestellten kann gezeigt werden, das intermediäre Formen möglich sind (siehe Schnabeltier, das ja zweifelsfrei existiert und ebenso zweifelsfrei einen Fortpflanzungsmodus hat, der zwischen dem von Reptilien und Säugetieren steht – auch wenn es alle *kennzeichnenden* Säugetiermerkmale hat und deswegen zu denSäugetieren zählt) und es sie auch gegeben haben *muss* - hätten die Vorfahren von uns nicht irgendwann Eier gelegt, wäre es völlig widersinnig, in unserem Genom Überreste von Eidotter-Genen zu finden.
Weitergehende und unterstützende Informationen:
Animal Diversity Web der University of Michigan [Informationen über alle hier angesprochenen Tiergruppen inkl. taxonomischer Einordnung, dazu Fotos]
Tree of Life [viele Literaturreferenzen zu den einzelnen Tiergruppen]
Übergang von Reptilien (Synapsiden) zu Säugetieren bei TalkOrigins
Kurze Version des Übergangs von Reptilien zu Säugetieren in den '29+ Evidences for Macroevolution' bei TalkOrigins
[Nachtrag 18.04.08: Unbedingt auch die Kommentare durchlesen, in denen Lars mit einigen meiner Ungenauigkeiten aufräumt!]
Brawand et al. (2008). Loss of egg yolk genes in mammals and the origin of lactation and placentation. PLoS Biology 6(3): e63. [doi:10.1371/journal.pbio.0060063; OpenAccess]
10 Kommentare:
Daumen hoch!
Als pdf abspeichern und als Skript zur Entwickltungsbiologie verwenden! :-)
Manueller Pingback: ;-)
http://www.fsbio.rwth-aachen.de/cgi-bin/yabb2/YaBB.pl?num=1208164152/0#0
Hi Stefan,
Danke!
Freut mich immer, wenn auch die wissenschaftlicheren Posts Anklang finden.
MfG,
JLT
P.S.: Die http://www.2jesus.de/ Seite ist wirklich hochamüsant. Ich finde ja auch immer wieder die Erklärungen, wie das mit der Sintflut und der Arche funktioniert haben soll, sehr lustig. Von allen Behauptungen, die Kreationisten so machen, ist dies wahrscheinlich die Einzelbehauptung, die gegen die meisten wissenschaftlichen Tatsachen aus der größten Anzahl wissenschaftlicher Disziplinen auf einmal verstößt.
Ein sehr schöner Beitrag!
Jaja, diese "just so" stories...
Interessantes Posting. Werde das Paper mal lesen, wenn ich Zeit habe.
Allerdings werden Taxa wie die Säugetiere jetzt meistens nicht mehr aufgrund von Merkmalen definiert. Zu den Säugetieren (Mammalia) werden alle Nachfahren des letzten gemeinsamen Vorfahren z. B. von Schnabeltier und Mensch (also auch aller heutigen Säuger) gerechnet. Das hat zur Folge, dass einige traditionell als "Säuger" klassifizierte Fossilien jetzt nicht mehr dazugehören. Ähnliche Definitionen gibt es auch für andere Taxa.
Auch werden die Vorfahren der Säuger heute nicht mehr als Reptilien bezeichnet. Einige wollen den Begriff "Reptilia" auf die Nachfahren des letzten gemeinsamen Vorfahen der heutigen Reptilien beschränken. Das würde dann auch die Vögel einschließen, aber nicht die fossilen "säugerähnlichen Reptilien". Andere sind dafür, Reptilia als taxonomischen Begriff ganz abzuschaffen. Die Reptilien im traditionellen Sinne sind jedenfalls nicht monophyletisch und können daher nicht aufrechterhalten werden.
Allerdings werden Taxa wie die Säugetiere jetzt meistens nicht mehr aufgrund von Merkmalen definiert. Zu den Säugetieren (Mammalia) werden alle Nachfahren des letzten gemeinsamen Vorfahren z. B. von Schnabeltier und Mensch (also auch aller heutigen Säuger) gerechnet. Das hat zur Folge, dass einige traditionell als "Säuger" klassifizierte Fossilien jetzt nicht mehr dazugehören.
Danke für Deinen Kommentar!
Den Kritikpunkt mit der Klassifizierung der Säugetiere nach Merkmalen nehme ich aber so nicht an. Es ist richtig, dass heute versucht wird, möglichst monophyletische Gruppen zu bilden und nicht mehr nach Merkmalen klassifiziert wird (habe ich ja auch erwähnt) - weil das mehr Sinn macht, aber auch wegen der Schwierigkeit, dass nicht alle Merkmale an Fossilien ersichtlich sind, Merkmale nicht gleichzeitig entstanden sind, es intermediäre Ausprägungen geben kann, man also keinen so eindeutigen Strich ziehen kann, wie bei der Bildung von Kladen (jedenfalls in der Theorie; wenn man ein bestimmtes Fossil betrachtet, kann es aus den gleichen Gründen schwierig sein zu entscheiden, ob es zu einer bestimmten Klade gehört oder nicht).
Aber die Merkmale, die die heutigen Säugetiere gemeinsam haben, müssen trotzdem irgendwann einmal entstanden sein.
Das war tatsächlich das, was ich hauptsächlich mit meinem Post rüberbringen wollte: Die Vorstellung, die manche zu haben scheinen (und die von dem taxonomischen "in Schubladen packen" noch unterstützt wird), dass es in einem Moment noch ein "Reptil" war und im nächsten ein Säugetier und dabei ein Krokodil und ein Pferd o. ä. vor Augen haben, entspricht überhaupt nicht dem, was man an den Fossilfunden "ablesen" kann. Egal, wo und nach welchen Kriterien man nun eine Grenze zieht, sie ist menschengemacht.
Zur Verdeutlichung:
Es ist durchaus möglich, dass es in 100 Mio. Jahren eine vierte Gruppe von Säugetieren gibt, nennen wir sie mal spaßeshalber "Paratheria", deren monophyletischer Ursprung in einer heute lebenden Eutheria-Art liegt. Wir könnten hier und jetzt auf diese Art schauen und keinen Unterschied feststellen, der rechtfertigen würde, für diese eine ganz neue Untergruppe von Säugetieren zu "erfinden"; tatsächlich SIND sie per definitionem Eutheria, da sie unzweifelhaft zur gleichen Abstammungsgruppe gehören.
In 100 Mio. Jahren, aus der Rückschau (wer immer dann zurückschaut und alle anderen Eventualitäten mal außen vor), müsste man aber diese eine Art, aus der sich alle anderen späteren "Paratheria" aufgespaltet haben, als ihren letzten gemeinsamen Vorfahren zu den "Paratheria" rechnen – per definitionem. Der Unterschied zwischen Eutheria und meinen hypothetischen "Paratheria" ist aber auf diese Ursprungsart bezogen kein real existenter, sondern nur ein definitionsgemäßer.
Genausowenig hat sich der letzte gemeinsame Vorfahre der Eutheria in irgendeiner Weise signifikant von den gleichzeitig lebenden Methatheria unterschieden, oder deren letzter gemeinsamer Vorfahre von den gleichzeitig lebenden Prototheria. Und der letzte gemeinsame Vorfahre aller Säugetiere muss auch nicht groß anders ausgesehen haben als die gleichzeitig lebenden "Reptilia" (das ich der Einfachheit halber benutze).
Darum fand ich den Artikel so passend. Die Vorfahren der Säugetiere haben nicht in einem Moment noch Eier gelegt und im nächsten ihre Jungen gesäugt, sondern jeder einzelne Aspekt (Milchproduktion, Eidotterproduktion, Entwicklungszeit im Ei vs. Dauer der Schwangerschaft vs. Zeitraum, in dem gesäugt wird) hat sich langsam und in gegenseitiger Abhängigkeit gewandelt, *über einen sehr langen Zeitraum hinweg*. Und Monotremata scheinen mit dem Eierlegen überhaupt ganz zufrieden zu sein (wenn ich so drüber nachdenke, ist das auch eine sehr nette Art sich fortzupflanzen: eine unblutige und wahrscheinlich schmerzfreie "Geburt", danach reicht erstmal eine Heizdecke als "Babysitter" und das Schlüpfen des Babys könnte dann auch die Frau ganz entspannt zu Hause im Kreis der Familie genießen...).
Was die merkmalsbezogene Definition angeht, stimme ich im Prinzip mit dir überein, vielleicht habe ich mich da nicht klar ausgedrückt. Was ich meinte, war, dass das Taxon Mammalia heute meines Wissens allgemein so definiert wird, wie ich es angegeben habe. Wenn in den engischsprachigen Blogs ein außerhalb dieser Gruppe liegendes Fossil als "mammal" bezeichnet wird, dann wird das immer von anderen korrigiert. Es ist durchaus möglich, Kladen anhand von Merkmalen (Apomorphien) zu definieren, z. B. bezeichnet "Avebrevicauda" sämtliche Nachfahren des ältesten Vorfahren der heutigen Vögel, der einen verkürzten Schwanz hatte. Was ich meinte war, dass das in diesem Fall meines Wissens nicht so gemacht wird.
Was dein "Paratheria"-Beispiel angeht: Die "Paratheria" wären dann eben als eine Untergruppe der Eutheria zu betrachten und nicht von diesen auszuschließen, da die Eutheria sonst paraphyletisch wären. Vögel werden ja z. B. inzwischen auch nicht mehr von den Dinosauriern ausgeschlossen, aus eben den gleichen Gründen, die du angegeben hast. Deshalb machen auch Kategorien wie "Klasse" und "Ordnung" wenig Sinn.
Wenn ich das richtig mitbekommen habe, sind "Metatheria" übrigens definiert als alles, was mit den lebenden Beuteltieren enger verwandt ist als mit den Plazentatieren, "Eutheria" entsprechend umgekehrt. Eine phylogenetische Definition der Prototheria kenne ich nicht, sie dürfte aber auch ähnlich lauten. Es handelt sich hier also nicht um aufeinanderfolgende Evolutionsstufen, sondern jeweils um monophyletische Gruppen.
Warum das Eierlegen aufgegeben wurde, ist wirklich eine interessante Frage, ich kenne allerdings keine Studien zu dem Thema, da ich mich deutlich besser mit der Evolution der Vögel als der Säuger auskenne.
Und damit das ganze nicht zu ernst bleibt: hier ein Posting vom Ersten dieses Monats zum Ursprung der Säuger von Darren Naish:
http://scienceblogs.com/tetrapodzoology/2008/04/true_origins.php
@ Lars,
zuallererstmal: großartiger Link!
Vielen Dank auch für Deine genaueren Definitionen der Bezeichnungen (Eutheria etc.).
Du hattest Dich auch in Deinem vorangegangenen Kommentar glasklar ausgedrückt, und Du hast völlig recht, dass heute defintionsgemäß nur die Arten (lebende und "fossile") zu einer Klade gezählt werden, die auf einen gemeinsamen Vorfahren zurückgehen.
Worauf ich hinauswollte, aber wahrscheinlich nicht ganz klar machen konnte, ist, dass diese Unterscheidung in der Theorie eine glasklare Trennung zwischen gemeinsamer Vorfahre und Nicht-Vorfahre ermöglicht, aber in der Praxis eine solche Unterscheidung unter Umständen sehr schwierig sein kann. Damit meine ich, wenn man ein Fossil findet, dass zeitlich, räumlich und von den Merkmalen her ein Vorfahre sein könnte, wie entscheidet man dann, ob es tatsächlich ein direkter Vorfahre, oder "nur" ein "Cousin" ist? Von meinem Verständnis her würde ich sagen, dass eine solche Unterscheidung in vielen Fällen nicht möglich ist, da der direkte Vorfahre und gleichzeitig lebende verwandte Arten sich wenigstens in den Merkmalen, die sich am Fossil ablesen lassen, kaum unterschieden haben, bzw. beide aufgrund ihrer Merkmalskombinationen als Vorfahre in Frage kommen könnten.
Nehmen wir an, meine hypothetischen Paratheria hätten sich ursprünglich von Mus musculus abgespalten und diversifiziert. Fände man dann in 100 Mio. Jahren ein Rattus norvegicus-Fossil, könnte man wohl nur sehr schwer entscheiden, ob das ein direkter Vorfahre der Paratheria ist oder nicht. Genauso schwierig wäre die Entscheidung natürlich auch, wenn man ein Mäuse-Fossil fände.
Jetzt muss ich doch mal auf meine "versteckte" Agenda zu sprechen kommen: Dies Post ist ja auch dazu gedacht, der falschen Vorstellung entgegenzutreten, je größer die Unterschiede zwischen zwei heute lebenden Tiergruppen, um so größer muss der evolutionäre "Sprung" gewesen sein, um diese aus einem gemeinsamen Vorfahren hervorzubringen. Auf einen Schlag/in ein paar Generationen hätte z. B. vom Eierlegen auf Lebendgeburt "umgeschaltet" werden, oder hätte sich die Plazenta entwickeln müssen o. ä.. Dabei müssen sich die Vorfahren der heute lebenden Säugetiere und die Vorfahren der heute lebenden Reptilien direkt nach der Aufspaltung nicht mehr unterschieden haben als sich heute Ratte und Maus unterscheiden. Wie das Beispiel der langsamen Inaktivierung der VIT-Gene zeigt (und auch ein neuer Artikel zur Entwicklung der Plazenta anklingen lässt, den ich gestern entdeckt habe und der Dich vielleicht auch interessieren könnte: Knox & Baker: Genomic evolution of the placenta using co-option and duplication and divergence. Genome Research 2008), gibt es einen solchen "Sprung" nicht.
Dir ist das natürlich klar, aber ich denke, es gibt viele, die sich das nicht bewusst machen und in meinem Post habe ich versucht, diesen einen Punkt "rüberzubringen". Darum habe ich Kladen nur "im Vorbeigehen" erwähnt und mich gleich auf die Entwicklung der Merkmale gestürzt, die für Säugetiere "typisch" sind. Wenn ich dabei zu sehr vereinfacht habe, bitte ich um Nachsicht – immer die Balance zwischen verständlich, korrekt und nicht zu lang hinzubekommen, ist nicht ganz einfach (jedenfalls für mich).
Du hast natürlich vollkommen recht, dass es sehr schwierig ist, ein Fossil als direkten Vorfahren zu identifizieren. Tatsächlich werden in Kladogrammen immer nur Schestergruppenverhältnisse dargestellt, niemals Vorfahren-Nachkomme-Verhältnisse. Dass das gefundene fossile Individuum tatsächlich ein direkter Vorfahr irgendwelcher heutigen Organismen ist, ist sowieso sehr unwahrscheinlich. Beim Paratheria-Beispiel müsste bei einer kladistischen Analyse idealerweise heruskommen, dass das Hausmaus-Fossil tatsächlich enger mit den Paratheria verwandt ist als das Wanderratten-Fossil. Ob das in der Praxis wirklich so hinkommt, ist natürlich eine andere Frage. Nach der Fossilüberlieferung der Kleinsäuger aus dem Mesozoikum zu urteilen, werden in 100 Mio. Jahren wahrscheinlich fast nur noch Zähne erhalen sein (the tooth, the whole tooth and nothing but the tooth).
Die Aussage, dass Evolution eben nicht nach dem Motto "Hund kriecht aus Echsenei" o. ä. verläuft, kann ich natürlich nur unterstützen. Deshalb gefiel mir dein Post trotz der kleinen Kritikpunkte auch recht gut. Das Problem, die Balance zwischen verständlich und korrekt hinzubekommen, kkann ich durchaus verstehen, ich kenne das selber, wenn ich so etwas anderen erklären will. Ich finde, den üblichen Missverständnissen zum Thema Evolution kann man gar nicht oft genug entgegentreten und ich hoffe, dass dein Posting da bei einigen Leuten etwas zur Aufklärung beiträgt. Die Kreationisten werden das natürlich weiterhin ignorieren und behaupten, Evolution wäre noch nie nachgewiesen worden, da man kein Tier halb Frosch, halb Känguruh kenne. Aber das sind wir ja schon gewöhnt.
Das Paper über die Entwicklung der Plazenta werde ich mir auch mal ansehen, wenn ich Zeit habe, danke für den Link!
Loved readding this thank you
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