Retroviren (wie z. B. HIV) sind Viren, die nach Befall einer Zelle ihr eigenes RNA-Genom in DNA umschreiben und in das Genom der Wirtszelle integrieren. Das virale Genom (das "Provirus") nutzt dann die Ressourcen der Wirtszelle, um neue Viruspartikel zu generieren. Freigesetzte Viruspartikel können dann wieder neue Zellen infizieren. Es kann aber auch Ruhephasen geben, in denen keine "Produktion" neuer Viruspartikel stattfindet. Kommt es in einer solchen Phase zur Zellteilung, wird auch das integrierte Virusgenom mit verdoppelt.
Solange die befallenen Zellen normale Körperzellen sind, kann die Integration des Virusgenoms zwar Schaden anrichten, indem ein an der Integrationsstelle liegendes Gen zerstört wird, aber es wird nicht an die Nachkommen des Wirts vererbt.
Es ist aber auch möglich, dass Zellen der Keimbahn (also die Zellen, aus denen bei Säugetieren Eizellen und Sperma hervorgehen) infiziert werden. Dann enthalten alle Zellen des nach einer Befruchtung entstehenden Embryos das Provirus integriert in ihr Genom, d. h. das Provirus wird wie die normalen Gene an die Nachkommen weitergegeben. Retroviren, die über Zellen der Keimbahn auch "vertikal" an Nachkommen weitergegeben werden, bezeichnet man als endogene Retroviren (ERVs). Eine ausführlichere Review gibt’s hier [Weiss. The discovery of endogenous retroviruses. Retrovirology 2006, 3:67; auch Bild-Quelle, Klicken zum Vergrößern].
Diese können weiterhin aktiv sein, aber auch durch Mutationen bei der Verdoppelung des Genoms der Wirtszelle vor der Zellteilung inaktiviert werden, d. h. die Proviren sind nicht mehr in der Lage, infektiöse Viruspartikel zu generieren.
In der Evolutionsgeschichte der Säugetiere haben es einige Retroviren geschafft, dauerhaft in das Genom ihrer Wirte integriert zu werden. Z. B. bestehen über 8 % [1] des menschlichen Genoms aus retroviralen Sequenzen, den Überresten ehemals aktiver Retroviren, sogenannten endogenen retroviralen Elementen. Die meisten davon "teilen" wir uns mit anderen Primaten, d. h. die Integration dieser Retroviren hat vor oder während der Auftrennung der Primaten in die verschiedenen Linien stattgefunden [2]. Eins dieser ERVs (Pan troglodytes endogenous retrovirus 1 [PtERV1]) zeigt nun ein Verteilungsmuster, das zunächst mal schwer zu erklären schien. Es findet sich in Gorillas und Schimpansen, aber nicht in Menschen [3].
Both the chimpanzee and gorilla genome harbor more than 100 copies of PtERV1, whereas it is absent from the human genome. Comparison of individual PtERV1 proviruses in gorilla and chimpanzee genomes suggest that this virus was active 3 to 4 million years ago, after the separation of chimpanzee and human lineages. This raises an evolutionary conundrum as to why sister species, but not humans, acquired germline copies of this retrovirus even though all three species cohabited when PtERV1 was an active exogeneous virus.
[Quelle: Kaiser et al., Restriction of an Extinct Retrovirus by the Human TRIM5alpha Antiviral Protein. Science 2007, 316: 1756-8]
Ein bekannter Mechanismus der Abwehr von Retroviren bei Primaten wird durch das Protein TRIM5a vermittelt, das direkt an das Capsid (innerhalb der Virushülle liegende zweite "Hülle", die Proteine und RNA des Virus enthält. Die äußere Virushülle "verschmilzt" bei der Infektion einer Zelle mit der Zellmembran) des eindringenden Virus bindet und es damit zur Zerstörung durch andere Zellbestandteile markiert. Alle Primaten haben eine TRIM5a-Version mit einer anderen antiviralen Spezifität, beispielsweise sind Rhesusmakkaken aufgrund ihrer TRIM5a-Version vor einer Infektion mit HIV-1 geschützt, Menschen dagegen nicht.
[Bild-Quelle: Emerman. How TRIM5a defends against retroviral invasions. PNAS 2006, Vol. 103, 5249-5250; Klicken zum Vergrößern]
Nun haben sich ein paar schlaue Leute gefragt, ob nicht unsere TRIM5a-Version uns vielleicht gegen eine Infektion mit PtERV1 geschützt hat, was erklären würde, warum wir, im Gegensatz zu unseren Verwandten, PtERV1-frei geblieben sind.
Fragt sich nur, wie man nachprüft, ob ein Protein spezifisch an das Capsid eines bestimmten Virus bindet, wenn dieser seit ein paar Millionen Jahre nicht mehr aktiv ist, sondern nur noch als eine Art Fossil im Genom von Schimpansen et al. vorhanden ist.
Because ancient humans are thought to have lived in the same regions as these closely related apes [Anm.: Schimpansen und Gorillas], these researchers [Kaiser, Malik, Emerman] asked whether an antiviral factor in our cells might have thwarted PtERV1. They homed in on TRIM5alpha, a protein that protects against retroviruses and exists in different form in different primates.[Quelle: Cohen. Fossil Virus Gives Clues to HIV Susceptibility. ScienceNOW 21 June 2007]
To assess whether human TRIM5alpha could stop PtERV1, the investigators first had to bring PtERV1 back to life. They did this by stitching critical PtERV1 genes [Anm.: u. a. die das Capsid kodierende Region] into a mouse retrovirus. The team then showed that this chimeric virus easily infected cat cells that had no TRIM5alpha but hardly caused any infection in cat cells engineered to contain human TRIM5alpha.
Wie cool ist das! Obwohl alle Kopien von PtERV1 im Schimpansengenom durch Ansammlung von Mutationen inaktiviert worden sind, konnten die Forscher durch Vergleiche der Sequenzen der einzelnen Kopien die Ursprungssequenz einzelner Abschnitte rekonstruieren. Mit den rekonstruierten Sequenzen haben sie dann in dem mit PtERV1 verwandten murinen Leukämie-Virus (MLV) die entsprechenden Sequenzen ersetzt, so dass sie eine PtERV1/MLV-Chimäre mit PtERV1-Capsid zur Verfügung hatten.
Diese Chimäre war tatsächlich aktiv. Katzen-Zellen, die kein TRIM5a enthalten, konnten mit der PtERV1-Rekonstruktion infiziert werden. Wenn sie diese Katzen-Zellen aber mit dem humanen TRIM5a ausstatteten, waren die Zellen vor einer Infektion geschützt.
Ergo, Menschen haben keine PtERV1-Kopien im Genom, weil unsere TRIM5a-Variante spezifisch für das PtERV1-Capsid ist und wir daher vor einer Infektion geschützt sind.
Ganz interessant, nettes Stück Arbeit, denkt der geneigte Leser aus Höflichkeit und will sich schon einer anderen Internet-Seite zuwenden, aber Halt! Das ist nur die eine Hälfte der Geschichte.
Specificity of TRIM5a for a particular retroviral capsid is largely determined by amino acids within the C-terminal B30.2 domain. Within this capsid-interaction domain, a particular "patch" contains amino acids under positive selection that contain the dominant determinants of specificity. For example, the amino acid at position 332 within this patch is a critical determinant of HIV-1 restriction. Humans and chimpanzees encode an arginine (R) residue at position 332, whereas the hominid ancestral residue at this position is a glutamine (Q). Reversing this change (R332Q) had moderate effects on the ability of human TRIM5a to restrict MLV variants. Notably, changing the arginine to the ancestral glutamine abolished the ability of human TRIM5a to efficiently restrict PtERV1 infectivity. Unexpectedly, the R332Q mutation had the opposite effect on HIV-1, improving the ability of human TRIM5a to restrict this virus. Thus, the R332Q mutation in human TRIM5a reveals a trade-off in TRIM5a ability to restrict two retroviruses; a mutation that abolished restriction for PtERV1 results in a gain of restriction to other viruses such as HIV-1.[Quelle: Kaiser et al., Restriction of an Extinct Retrovirus by the Human TRIM5alpha Antiviral Protein. Science 2007, 316: 1756-8]
Aah, die wissenschaftliche Prosa. In ihrer Leichtigkeit kaum zu überbieten – und so mitreißend... Was die hier tatsächlich herausgefunden haben, ist wirklich spannend (in einem wissenschaftlichen Text erkennt man das an Worten wie "unexpectedly").
Die Forscher haben in der Region, die die Wechselwirkung zwischen TRIM5a und dem Virus-Capsid bestimmt, eine Aminosäure (Arginin, R) ausgetauscht und zwar durch die Aminosäure (Glutamin, Q), die in der TRIM5a-Variante des gemeinsamen Primaten-Vorfahren an dieser Stelle gewesen ist. Und wie erwartet, in dieser Q-Variante war das humane TRIM5a lange nicht mehr so effektiv in der Verhinderung der Infektion der Katzen-Zellen mit PtERV1 (die relative Infektiösität stieg von 2 in Katzen-Zellen mit normalen humanen TRIM5alpha auf 61 mit Q-TRIM5a; Katzen-Zellen ohne TRIM5a: 100).
Das spannende ist aber, dass sich gleichzeitig die Effektivität von TRIM5a, eine Infektion der Katzen-Zellen mit HIV-1 zu verhindern, steigerte (relative Infektiösität 13 mit Q-TRIM5a im Vergleich zu 28 mit normalem humanen TRIM5a).
Es ist offenbar eine entweder-oder-Situation, TRIM5a kann gegen PtERV1 schützen, oder gegen HIV-1, aber nicht beides gleichzeitig. Eine Untersuchung der TRIM5a-Varianten von Mensch, Schimpanse, Gorilla, Orang Utan, Gibbon und einiger Altweltaffen zeigte, dass tatsächlich keine dieser Varianten gegen beide Viren Schutz bietet.
Möglicherweise ist also dieses uralte Virus PtERV1 "Schuld" daran, dass wir uns heute mit dem HI-Virus infizieren können – eine Pandemie mit PtERV könnte dazu geführt haben, dass sich die mutierte Form (R) der ursprünglichen TRIM5a (Q)-Variante bei unseren Vorfahren durchgesetzt hat, weil sie vor einer PtERV-Infektion schützte.
[Bild-Quelle: Kaiser et al., Restriction of an Extinct Retrovirus by the Human TRIM5alpha Antiviral Protein. Science 2007, 316: 1756-8; Klicken zum Vergrößern]
Aber wie immer gibt es auch noch offene Fragen. Wie es der begleitende ScienceNOW-Artikel formuliert:
Still, there are a few untidy aspects between TRIM5a and PtERV1. For example, even though ancient chimps were susceptible to PtERV1, today's chimps seem resistant. Modern chimps have a humanlike version of TRIM5a, so the researchers postulate that it may have mutated from its ancient form long after the two species split. Or it could be that TRIM5a works in concert with other factors to block retroviruses. "This is just the beginning of trying to understand how the evolution of these genes has shaped modern viral susceptibilities," says Emerman.
Wer noch ein bisschen weiter lesen möchte, Carl Zimmer von The Loom geht noch ein wenig mehr auf die Hintergründe ein und hat auch einige interessante Links zu dem Thema.
MfG,
JLT
[1] International Human Genome Sequening Consortium. Finishing the euchromatic sequence of the human genome. Nature 2004, 431: 915-6
[2] Johnson and Coffin. Constructing primate phylogenies from ancient retrovirus sequences. PNAS 1999, Vol. 96, Issue 18, 10254-10260
[3] Yohn et al., Lineage-Specific Expansions of Retroviral Insertions within the Genomes of African Great Apes but Not Humans and Orangutans. PLoS Biol. 2005, 3(4); e110
3 Kommentare:
Cooler Beitrag.
Aber wird da nicht ein bisschen viel reininterpretiert, von wegen Pandemie und so?
Denn wenn das stimmen sollte, dass PtERV1 vor 3 Mio. Jahren in allen Primaten aufgetreten ist, warum findet man es dann im Menschen gar nicht? Das würde ja fast zwangsläufig bedeuten, dass das blöde Ding für Frühmenschen um Größenordnungen letaler gewesen sein muss als für die Affenvorfahren.
Ist es nicht wesentlich einfacher anzunehmen, dass der AS-Austausch vorher stattgefunden hat (evtl. Selektionsdruck durch andere Retroviren, deren Reste man heute im Humangenom findet) und die Homininen PtERV1 nicht gekriegt haben?
Hi Fischer,
Danke.
Gute Frage. Ich bin gerade etwas busy, werde aber definitv noch antworten, entweder heute oder morgen Abend.
Schöne Grüße, JLT
So, wie angekündigt, mein Versuch einer Antwort:
Es ist zunächst mal durchaus möglich, dass PtERV1 hochgradig lethal war und Individuen mit der "neuen" TRIM5alpha-Variante einen sehr großen Selektionsvorteil hatten. Keiner weiß, was für eine Krankheit oder welche Symptome eine Infektion mit PtERV1 verursacht haben könnte und auf welchem Wege es übertragen wurde. Und aus Sicherheitsgründen wird auch sicher keiner versuchen, eine voll infektiöse Version von PtERV1 herzustellen, um das rauszufinden. Diese Frage ist also nicht letztendlich zu beantworten.
Ich nehme an, dass die "neue" TRIM5alpha-Variante schon vor dem Auftreten von PtERV1 vorhanden war, und es ist durchaus möglich, dass sie durch Gendrift oder weil sie auch vor anderen Retrovirus-Typen einen Schutz geboten hat, schon weiter verbreitet war. Dass es aber PtERV1 war, welches letztendlich dazu geführt hat, dass *alle* heute lebenden Menschen diese "neue" TRIM5alpha-Variante haben, ist ein Rückschluss aus der Tatsache, dass dieses endogene Retrovirus eben *nicht* sowohl im Genom von Schimpansen als auch unserem vorkommt, während wir von den anderen, gemeinsam vorkommenden Retroviren anscheinend gleichermaßen betroffen waren.
Dazu muss PtERV1 nicht 100%ig tödlich gewesen sein (höchstwahrscheinlich war es das nicht, sonst würde es heute keine Schimpansen et al. geben), oder tödlicher für Menschen als für Schimpansen (bzw. unsere jeweiligen Vorfahren).
Ich versuch's mal an einem Rechenbeispiel deutlich zu machen.
Nehmen wir an, in einer Population mit 100 Individuen haben 5 die neue Variante und der Rest die alte. Der Reproduktionserfolg ist durchschnittlich 2, d. h. im Durchschnitt erreichen 2 Nachkommen pro Individuum selbst wieder das fortpflanzungsfähige Alter. Jetzt taucht das neue Virus auf. Bei den durch die neue TRIM5alpha-Variante geschützten Individuen bleibt die Reproduktionsrate bei durchschnittlich 2. Die mit der alten Variante haben nur noch einen Reproduktionserfolg von 1,2 (die Zahlen sauge ich mir natürlich gerade aus den Fingern, es geht ja nur um's Prinzip – die Individuen mit der alten Variante haben einen um welchen Faktor auch immer geringeren Fortpflanzungserfolg). Dabei muss das Virus nicht notwendigerweise eine hohe Letalität gehabt haben. Es reicht, wenn z. B. kranke und dadurch geschwächte Individuen auch häufiger gefressen wurden und/oder Unfälle hatten. Oder die Infektion einen Einfluss auf die Fruchtbarkeit hatte, beispielsweise Fehlgeburten häufiger waren. Vielleicht hat die Virusinfektion die Augen betroffen, so das die Individuen bei der Nahrungssuche benachteiligt waren und dadurch auch ihre Nachkommen nur schlecht versorgen konnten - was auch immer. Auch das ist alles reine Spekulation, nur um deutlich zu machen, dass ein Virus nicht notwendigerweise eine sehr hohe Letalität haben muss, um die Reproduktionsrate deutlich zu beeinflussen.
"Überlebende" können trotzdem Nachkommen haben, die dann möglicherweise sogar, weil auch Zellen der Keimbahn von dem Virus infiziert wurden, Kopien des Virus im Genom haben.
So, zurück zu meinem Rechenbeispiel. 5 % der Individuen einer Population mit einem durchschnittlichen Reproduktionserfolg von 2, 95 % mit einem Reproduktionserfolg von 1,2 pro Individuum. Rechnerisch haben nach 20 Generationen 99,9 % der Population die neue Variante. Bei 1,5 gegenüber 1,1 durchschnittlichem Reproduktionserfolg nach 32 Generationen. Starten wir mit dem gleichen Reproduktionserfolg (1,5 gegenüber 1,1), aber nur 1 % der Population haben die neue Variante, sind es 37 Generationen. Starten wir unter den gleichen Voraussetzungen mit 0,1 % - 45 Generationen. Eine Frequenz von 0,1 % der neuen Variante ist wahrscheinlich immer noch zu hoch angesetzt, aber da ich auch keine Ahnung habe, wie stark der Reproduktionserfolg durch das Virus beeinflusst und wie lange es aktiv war, ist dies alles hier soundso nur dazu gut, um prinzipiell zu zeigen, dass Unterschiede im Reproduktionserfolg die Verbreitung einer bestimmten Variante sehr stark beeinflussen können.
In einer Population, in der kein einziges Individuum die neue Variante hat, also alle gleich betroffen sind, sinkt über den Zeitraum, in dem das Virus "umgeht", zwar die Reproduktionsrate. Sie sinkt aber für alle gleichzeitig und so lange die Reproduktionsrate nicht unter durchschnittlich 1 sinkt, bleibt die Population bestehen.
Um eine heutige ausschließliche Verbreitung der neuen TRIM5alpha-Variante zu erklären, muss noch nicht mal, während das Virus aktiv war, eine 100%ige Verbreitung der neuen Variante statt gefunden haben. Den Rest könnte auch Gendrift erledigt haben.
Ich hoffe, das beantwortet die Frage?
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